Kapitel 39

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Justin Hendoras

Juliette musste verstehen.

Das hatte Justin verstanden.

Doch wie sollte er es ihr weismachen? Es schien ihm fast eine unmögliche Aufgabe zu sein. Wie sollte man Juliette Kerz überhaupt von irgendetwas überzeugen, was sie sich nicht selbst in den Kopf gepflanzt hatte? Richtig, der einzige Weg war, ihr etwas in die Wurzeln zu packen. Sie musste selbst auf die Idee kommen. Aber Justin hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte.

Er würde es auf gut Glück versuchen - wie so oft. Und er würde er schaffen. Das war zwar nicht so oft, aber diesmal war er sich sicher. Dieses Mal würde alles gut gehen. Aber es war wahrscheinlich kein guter Moment, um mit ihr über die Ohrfeige zu reden, die sie ihm kurz nach ihrem Kuss verpasst hatte. Er war immer noch der Meinung, dass das definitiv eine zu Unrecht verteilte Klatsche gewesen war. Wenn er sie allerdings heute darauf ansprechen würde, wäre dieses Gespräch eine verlorene Schlacht. Nichtsdestotrotz - er würde sie ansprechen. Nur eben an einem besseren Tag, einem besseren Zeitpunkt.

Justin fasste sich ein Herz und klopfte an die Stange, an der das Zelt, in dem sich Juliette eingerichtet hatte, angebracht war. Er hörte, wie jemand genervt aufstöhnte. "Ja?! Goliardon, ich habe dir schon gesagt, was meine Antwort ist! Du brauchst nicht noch einmal kommen, denn sie wird sich noch nicht geändert haben! Außerdem-" Juliette steckte den Kopf heraus. "-bist du echt nervig und-" Sie brach ihren Satz ab, als sie ihn sah. "Justin", sagte sie nach einer Weile tonlos. Sie sah müde aus, wie sie alle es waren. Ihre Schultern -eigentlich ihr ganzer Körper- schien angespannt zu sein und ihre orangen Locken glänzten nur noch matt und schienen ausgedehnt und ebenso kraftlos zu sein, wie ihre Augen. "Hi, Julie." Justin setzte sein bestes Lächeln auf. Juliette antwortete nicht. "Was willst du denn?", fragte sie schließlich. Ihr Ton war um einiges Weicher geworden, als bei ihrer Begrüßung. Das überraschte Justin. Ehrlicherweise hatte er schon mit der nächsten Ohrfeige gerechnet. Einfach nur, wegen seiner Anwesenheit. Juliette war für ihn ein Rätsel, auf das es keine Antworten gab.

Er merkte erst, dass er sie anstarrte, als sie eine Augenbraue nach oben zog. "Was?" "Oh, ich... Entschuldige. Ich war nur in Gedanken versunken", antwortete er, doch es war nur die halbe Wahrheit gewesen. Juliette sah ihn fragend an. "Also, was willst du? Willst du... äh, reinkommen?" Justin nickte. "Gerne." Juliette ließ ihn vorbei gehen, aber sie warf noch einen schnellen Blick nach draußen, wie, als würde sie Ausschau nach etwas halten, was sie im Schatten des Herbsts beobachtete. Schließlich schob sie das Stofftuch wieder nach vorne und der kalte Luftzug verschwand. Justin drehte sich zu ihr um. "So", sagte er, denn etwas anderes fiel ihm gerade nicht ein und die Stille war zu beißend, als dass er sie länger ertragen wollte. Juliette sah ihn mit ihren kühlen, blauen Augen an. "So", antwortete sie.

Schon fast hatte Justin vergessen gehabt, wieso er überhaupt da war. Er lächelte sie verlegen an. "Du weißt ja, dass wir ziemlich viele Probleme mit Nahrungsmitten haben, hm?" Juliettes Lächeln verblasste. Sie legte den Kopf etwas schief und runzelte ihre Stirn leicht. "Worin soll dieses Gespräch enden?", fragte sie mit schmalen Augen. Justin verkniff sich ein Stöhnen. Woher wusste sie denn schon wieder, dass er über etwas reden wollte, das ihr ganz und gar nicht gefallen würde? Sie war definitiv ein Rätsel. Er versuchte es noch einmal zu überspielen. "Was meinst du denn? Ist doch alles bestens!" Bestens. Bestens! Das war das absolut Dümmste gewesen, was er hätte sagen können. Juliettes Augen waren nur groß und ihr Blick scharf. "Was?"

Er holte tief Luft. "Was ich sagen will, Juliette... Ähm, also..." Verdammt, da stand er nun. "Okay. Also. Ich weiß, dir wird das nicht gefallen, wenn ich das jetzt sage-" "Dann sag es nicht", unterbrach Juliette ihn. Sie drehte sich um und setzte sich auf ihr Strohlager. Justin seufzte und legte dabei ebenfalls kurz den Kopf schief, wie, als würde er somit seine Gedanken sortieren. "Hör mal. Unser Proviant reicht nur für... Er wird uns nicht durch den Winter bringen. Und im Frühling könnten wir nur anbauen. Wir haben kaum noch Felder, kaum irgendetwas, was wir essen könnten. Tiere gibt es im Winter fast nur im Wald und dort hausen zahlreiche Kreaturen." Juliette sah ihn nicht an. Sie saß nur da und blickte zu der gegenüberliegenden Zeltwand, ihr Blick stur wie immer. "Juliette." Justin ging vor ihr in die Hocke. "Ich weiß, wir alle sind in einer voll beschissenen Lage. Aber wir müssen da durch. Und ich weiß, du willst Mortis nicht verlassen, aber es ist der einzige Weg um am Leben-"

Sie sah auf, dann rief sie: "Ich gehe nicht weg! Warte..." Ihre Stimme wurde leiser. "Hast du mich deswegen geküsst? Weil du meine Zuneigung wolltest, damit ich dir zustimme? Ist es deshalb?" Justin schreckte auf. "Was?! Nein!" "Es ist deshalb!", reif sie und sprang auf. "Und ich werde nicht gehen. Schon gar nicht ohne Nenan!" Sie wollte an ihm vorbei zischen, vorbei und raus aus dem engen, staubigen Zelt ins Freie.

Justin hob seine Hand und hielt sie so sanft wie möglich am Arm zurück. "Nein, ich - Julie, warte! Juliette!" Sie war so verdammt stur! Er drehte sie zu sich. Justin wusste, dass sie Angst hatte, wie jeder, wie jeder hier in Mortis, wie auch Justin. "Juliette. Das ist keine Entscheidung, die leicht ist, das weiß ich." Er beugte sich zu ihr vor. "Aber es ist eine Entscheidung, die wichtig ist. Und ich will, dass du weißt, dass ich da bin. Ich mache diesen Schritt mit dir. Es ist egal, ob Nenan hier ist, oder nicht, denn wenn wir noch länger warten, dann werden wir mitten im Nirgendwo sein, wenn uns der Proviant ausgeht. Und ich denke nicht, dass Nenan das wollen würde. Ich... Ich denke nicht, dass Lars das wollen würde." Juliette sah auf, als er Lars' Namen sagte. Justin sah sie an und er hoffte, dass sie in seinen Augen sah, was er ihr sagen wollte. Er hoffte, dass sie darin die Zuneigung, Entschlossenheit, Stärke, den Mut und die Liebe fand, die sie brauchte, um ihm zu vertrauen. Als sie ihn endlich ansah, merkte er die tiefe Trauer, die sie mit sich trug. Und die Sache war, dass er ihr nicht zeigen konnte, dass er keine Angst hatte. Denn die hatte er. Ihre Augen spiegelten nur seine eigene Furcht wider, seine eigene Trauer um das, was sie in Mortis alles verloren hatten.

Er wusste nicht, wie, aber irgendwann fand er sich mit Tränen in den Augen in ihrer Umarmung wieder, ihr Kopf an seinen Hals gelegt, seine Nase in ihrem Haar, ihrer beiden Arme umeinander gelegt. Justin schloss die Augen und nicht zum ersten Mal wünschte er, die Zeit anhalten zu können.

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt