Kapitel 44

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Nenan Trolot

Zu dem Zeitpunkt, an dem sie das Lager wieder erreicht hatten, war die Sonne schon am Untergehen. Und nicht nur das, sondern auch Nenans Weltbild. Denn als sie dort waren, war es verlassen. Mehr noch: Die Zelte waren größtenteils abgebaut worden, alle Vorräte und Waffen waren fort. Einzig und allein vier Pferde waren noch da, angeleint an die Stangen neben dem letzten stehendem Zelt - Nenans Zelt. 

Nenan lief auf die Pferde zu und sein Herz machte einen Satz, als er Niersbachs Klinge erkannte, direkt neben Lars' Siegesstolz, den er Nenan gegeben hatte. Die anderen zwei Pferde kannte er nicht, aber Chana stürzte sich sofort auf eines. "Hallo, Jula", flüsterte sie und legte ihren Kopf an die Schnauze der Stute. Ach, ja, Jula, die Mutter von Nenans zweitem Pferd Lula... das merkwürdigerweise nicht da war.  

Anton kam außer Atem bei den beiden an. "Es ist ja gut und schön, dass ihr euch der Pferde wegen so freut. Aber - vielleicht ist euch das noch gar nicht aufgefallen - wo sind den alle anderen?!", rief er laut und verzweifelt warf er die Arme in die Luft. Nenan schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht." Chana machte sich hinter ihm daran, die Pferde zu füttern und zu wässern. Berain und Durand sahen sich an und zuckten mit den Achseln. Theyn konnte wieder laufen, aber war noch immer nicht sonderlich stabil unterwegs. Lahnol und Oreni kamen als letztes zum Lager. "Sie können doch nicht einfach gegangen sein?", fragte ersterer traurig. Nenan seufzte. "Sie müssen an den bevorstehenden Winter gedacht haben..." Oreni sagte: "Ich meine, ich sehe ihren Punkt, aber dass sie uns einfach so zurück lassen? Das ist... frech." 

Nenan ging auf sein Zelt zu und schob den Stoff beiseite, der als Tür diente. Ein Blick reichte, um zu sehen, dass sein Hab und Gut noch da war. Einzig und allein eine Sache hatte sich verändert: Ein bescher Umschlag lag auf dem Bett, das Wappen von Mortis als Siegel. Er nahm ihn und brach das Siegel. Er erkannte sofort Juliettes verschnörkelte Schrift, aber sie war hektischer als sonst, unordentlicher. er las aufmerksam und mit gerunzelter Stirn.

"Nenan,

Justin hat mich überzeugen können. Der Winter naht und wir sind knapp an Vorräten und Verpflegung. Hier, im Lager oder auch in der Ruine sind unsere Überlebenschancen gering, besonders, wenn wir im Winter schutzlos den wilden Tieren zum Opfer fallen, die zu dieser Jahreszeit kaum noch Beute finden. Zum Wohle von uns allen haben wir entschieden, in Richtung Niersbach zu reisen. Vielleicht gibt man uns dort Schutz und Hilfe. 

Ich hoffe, dir geht es gut. Justin ist eine Nervensäge, wie immer, aber das muss ich dir ja nicht sagen. Ich hoffe auch, dass deine Quest erfolgreich war und du Theyn Leyfastan und Chana sicher nach Hause bringen konntest. Richte Chana meine Grüße aus. Und bitte pass auf, dass sie nicht wieder wegläuft. Wir hoffen, ihr stoßt in Aleria zu uns, wo wir eine Pause machen werden. Zu acht seid ihr sicher schneller als wir. 

Wir haben deine Sachen nicht angerührt, keine Sorge, aber wir haben dir Siggi, Niersbach, Jula und Tau da gelassen, damit eure Reise schnell verlaufen wird. 

Glaub mir, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht hier alleine lassen, aber das Glück unseres Volkes geht vor, wie du weißt. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht allzu übel. Pass auf dich auf, Nenan. Ich hoffe, wir sehen uns in Aleria, oder früher. 

J. K.

P.S.: Wir nehmen die Hauptstraße."

Nenan seufzte. Es war ein tiefer Seufzer, aber er war etwas erleichtert. Erleichtert, weil nichts passiert war. Natürlich hatte er das angenommen, aber es war gut, es schwarz auf weiß zu haben. 

Nenan trat aus dem Zelt.

Chana war immer noch mit den Pferden beschäftigt, Anton zappelte herum und fingerte mit den Federn seiner Pfeile herum, wie er es oft machte, wenn er gelangweilt war. Oreni und Lahnol standen dicht beieinander und musterten Nenan beide mit dem selben Blick. Manchmal war Nenan sich nicht sicher, ob sie Zwillinge, ein Pärchen oder seelenverwandt waren, weil sie einfach so... so speziell waren. Die echten Geschwister - Berain und Durand - saßen mit Theyn auf der letzten Bank, die noch im Lager stand und eigentlich einfach nur ein Baumstupf war.

"Und?", fragte Oreni. Ihr Blick fiel auf den geöffneten Brief in Nenans Hand. Er seufzte und reichte ihr das Papier. "Sie es dir selbst an..." Chana drehte sich bei den Pferden um. Nenan begegnete ihrem Blick. Es schien ihm, als würde sie verstehen, denn ihre Gesichtszüge wurden härter. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Nenan drehte sich um, um nicht mir ihr streiten zu müssen, weil er wusste, was kommen würde. Chana hatte geschworen diesen Ort - Mortis - zu verteidigen und das würde sie auch tun. Aber sie durfte nicht hier bleiben, denn Nenan würde gehen und er würde seine Freundin nicht hier lassen. Denn es war ihm während der Suche nach Theyn und Chana etwas klar geworden: Chana war seine Freundin, egal, ob sie das genauso sah, oder nicht. Er hatte versprochen, auf sie zu achten und das war das Versprechen, für das er alles geben würde. 

Nenan sah hinüber zu Oreni und Lahnol, die den Brief an Theyn und die Geschwister weitergegeben hatten. Beide sahen ihn wieder erwartungsvoll an. "Ja", sagte Nenan, als alle den Brief gelesen hatten, einschließlich Chana und Anton. "Wir haben eine Nachricht bekommen. Und einen Plan." Anton sah zu ihm auf. "Einen Plan? Was machen wir denn  jetzt, Nenan? Folgen wir ihnen?" "Wir folgen ihnen", bestätigte Nenan. "Nein", sagte Chana plötzlich. Nenan drehte sich seufzend zu ihr um.

"Nein", wiederholte sie. "Chana", begann Nenan. "Wir müssen ihnen folgen. Das ist unsere Plicht. Als Heerführer. Als Ritter." Chana schüttelte energisch den Kopf. "Nein. Du verstehst das nicht, ich kann nicht weg!" Nenan schloss kurz die Augen, dann sagte er, was ihm auf der Zunge lag. "Du kannst nicht hier bleiben. Denk doch nach! Hätte Nadine das gewollt?" Es löste nicht die gewollte Reaktion aus, im Gegenteil. "Du weißt gar nichts darüber! Du weißt gar nicht, was sie gewollt hätte!", rief Chana laut. Nenan verlor die Geduld. "Aber du weißt es besser!?", rief er. "Ich war ihr Seelenverwandter, du warst nur ihre Freundin!" "Ja, und mich hat sie sich ausgesucht! Bei dir hatte sie keine Wahl!" Sie hatte Tränen in ihren Augen. Nenan hatte einen wunden Punkt getroffen und er bereute es sofort. "Ach du Scheiße, was ist denn bei euch überhaupt los?!", rief Anton laut und überrascht. "Halt den Mund! Das geht dich nichts an!", fauchte Chana. Antoon schreckte zurück.

"Chana", versuchte Nenan es noch einmal. "Wir haben geschworen, dass wir Mortis beschützen werden. Wir haben es versprochen." "Ja, und hier ist Mortis!" "Nein! Nein, hier ist es nicht mehr. Das hier ist eine Ruine. Ein Zeugnis unseres Scheiterns. Aber Mortis - die Leute - sie sind dort. Sie sind dort draußen. Sie sind Mortis. Nicht ein Ort, nicht eine willkürlich gezogene Grenze auf Papier. Sie sind Mortis. Wir sind es. Und dafür ist Naddie gestorben. Nicht für eine Mauer. Nicht für eine Grenze. Sondern für eine Vision. Für Mortis." 

Er sah, wie Chana kämpfte. Sie kämpfte mit ihren Tränen und mit ihren Emotionen. Die anderen sahen schockiert aus. So verletzlich hatten sie Chana nie gesehen. 

Nenan trat näher an sie heran. Die ersten Tränen liefen ihr über das Gesicht. "Ich vermisse sie", flüsterte sie unter tränenerstickter Stimme. "So sehr." "Ich weiß. ich vermisse sie auch", flüsterte Nenan. Jetzt musste er selbst seine Trauer hinunter schlucken. Chana sah zu ihm hoch. "Ich habe sie geliebt. Ich habe sie geliebt, mehr als alles andere." "Ich weiß", flüsterte Nenan und sein Sichtfeld wurde glasig. "Ich habe sie geliebt wie eine Schwester." Er seufzte. "Bitte, Chana. Lass uns unser Versprechen halten. Sie hat es uns schwören lassen und ich werde es niemals brechen. Ich werde Mortis verteidigen, selbst, wenn es nur diese Leute sind. Und ich werde den finden, der das hier zu verantworten hat. Und wir werden auferstehen von den Ruinen und der Asche." Chana blinzelte ihre Tränen weg. "Ja. Wir werden sie rächen. Wir werden wiederaufbauen, was gebrochen ist. Nur... nur unsere Herzen nicht." Sie schluckte. Nenan seufzte abermals schwer. "Wir werden sie nicht vergessen. Und unsere Liebe zu ihr wird bleiben."

"Unsere Liebe wird bleiben", wiederholte Chana leise. Ihre Tränen waren nur noch Spuren auf ihren dunklen Wangen. Nur noch Spuren in ihrem Herzen, die immer blieben würden.


Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt