Kapitel 38

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Chana Kaufff

Chana lief.

Schon seit Ewigkeiten rannte sie durch den scheinbar endlosen Wald, über altes Laub, dunkles Gras, Pfützen und Steine, über Käfer, Ameisen und sonstige Kleintiere, die sich unter den Herbstblättern versteckt hatten. Hinter ihr hörte sie Theyn, die Ritterin der Letzten Verteidigung, die mit ihr gemeinsam gegangen war. Chana stolperte fast über ihre eigenen Füße, so schnell rannte sie zwischen den Bäumen. Auf einmal hörte sie Theyn aufschreien. "Argh! Chana, wartet!" Chana bremste ihren Sprint ab, dann drehte sie sich um. Theyn saß am Boden und hielt sich ihren Knöchel.  Ihr blondes Haar war zerzaust und unordentlich. Einige alte Blätter hatten sich in ihren Strähnen verfangen, als sie unter den Bäumen gelaufen waren. "Ich bin umgeknickt...", sagte sie leise, als sie Chanas Blick sah. Chana nickte. "Könnt Ihr laufen?", fragte sie. Theyn nickte. "Ich glaube schon. Könnt Ihr mir aufhelfen?" Widerwillig streckte Chana ihr eine Hand hin. Theyn griff danach und Chana zog sie hoch. Als sie wieder auf den Beinen war, fragte sie: "Wisst Ihr, wohin wir überhaupt laufen? In welcher Richtung ist die Ruine?" Chana rümpfte die Nase, als Theyn Mortis eine "Ruine" nannte. Natürlich, sie hatte nicht Unrecht, aber Mortis war etwas so viel Besseres als eine Ruine. Das hätte es sein sollen. 

Chana wollte ein einfaches Achselzucken als schnelle Antwort verwenden, doch dann entschied sie sich um. Das hier war ein ernsteres Thema und Chana wusste, dass sie oft - besonders nach Prinzessin Nadines Tod und dem Fall von Mortis - abweisende oder einfache Antworten gab, die manchmal nur dazu da waren, um überhaupt etwas entgegnen zu können. Früher hatte sie das zwar auch schon gemacht, doch es hatte immer Leute gegeben, die ihr geholfen hatten, zu lernen, besser mit anderen Menschen umgehen zu können. Aber die meisten dieser Personen waren tot. Die Wichtigsten waren tot...

Theyn sah sie immer noch fragend an, denn Chana hatte den Kopf gesenkt und überlegt. Die Ritterin runzelte die Stirn, dann fragte sie: "Chana? In welche Richtung?" Die Angesprochene nickte. "Ich glaube, dass wir in die richtige Richtung gehen." "Wieso denkt Ihr das? Der Wald sieht überall gleich aus!", argumentierte Theyn. Sie runzelte die Stirn und Chana war sich sicher, dass der Eliteritterin bald die Geduld ausgehen würde.  "Der Mond ist dort auf gegangen", antwortete Chana also schnell. "Dort ist also Osten. Und wir sind im nordwestlichen Wald. Also müssen wir dem Mond entgegen gehen." "Nach Osten also?", fragte Theyn und rieb sich den Knöchel. Sie wirkte ein wenig besänftigter. Chana nickte. Sie ging voraus, Theyn folgte ihr langsam. Anscheinend war ihr Knöchel doch mehr verstaucht, als sie vorgab. 

Schon bald fielen die ersten Regentropfen und kurz danach goss es in Strömen. Chana und Theyn mussten ihre Schritte verlangsamen, nicht nur, weil Theyns Bein immer mehr zu einem Problem wurde, sondern auch, weil der Regen ein Hindernis darstellte. Die beiden liefen ehrgeizig weiter, den Regen prasselte auf ihre Haare und durchnässte Schuhe und Kleidung. Theyn hatte sich die gelbe Kapuze ihres Umhangs aufgesetzt, aber ihr langes Haar triefte vom Regen. Chanas Nase triefte ebenso. Allerdings war sie sich sicher, dass sie größere Probleme, als nur Schnupfen hätten, wenn sie in dieser Nacht nicht weiter kamen - und wer wusste auch schon, was noch in diesem Wald lauerte?

Sie brachten es kaum noch weiter. Theyn hielt irgendwann an, Chana fasste sie an der Schulter und zog sie weiter, doch Theyns Bein war und blieb ein Problem. 

Auf einmal hörten sie ein vertrautes Rufen. Augenblicklich drehten sich Theyn und Chana in die Richtung der Laute. Chana runzelte die Stirn. Das war doch... "Nenan!", rief sie laut und löste sich von Theyn. "Nenan!", rief sie noch einmal und folgte der Stimme, die nach ihr rief. Hinter ihr hörte sie Theyn, wie sie ihr nach humpelte, so gut es eben ging. "Nenan!", brüllte Chana noch lauter und die Stimme wurde klarer. "Chana! Hier!", hörte sie es zwischen den Bäumen nach ihr rufen. Eifrig lief sie weiter, immer weiter. 

Plötzlich hörte sie Theyn hinter sich rufen. "Halt! Chana, stopp! Wartet! Ihr müsst warten!" Doch Chana wollte nicht warten. Es würde viel zu lange dauern, bis sie mit Theyn dort war, aber wenn sie Nenan finden würde, könnte er Theyn besser helfen als Chana. Erst, als sie Theyn fluchen hörte, wurde sie langsamer. "Theyn, ich gehe nur Nenan holen!", rief sie über ihre Schulter. "Nein!", rief die andere Frau. Ihre Stimme klang panisch. "Tut das nicht! Das ist nicht Heerführer Nenan!" Sofort blieb Chana stehen. "Was?" Theyn humpelte auf sie zu. Sie sah ihr energisch in die Augen. "Das ist nicht Nenan. Ich höre ihn nämlich nicht. Ich... Ich höre die Stimme von jemandem, der längst tot ist." Chana hielt inne. "Was... Wer... Wer ist das dann?" Theyn zog an ihrem Arm. "Ich kann es dir später erklären, aber jetzt müssen wir verschwinden! Schnell! Bevor es uns hier findet!" Theyn rüttelte an ihr, doch die Ritterin war wie erstarrte. "Bevor... Bevor was uns findet?", fragte sie. Ihr Atem ging stockend. Theyns große Augen trafen auf ihre. 

"Die Listerin", hauchte Theyn, bevor mit einem tonlosen Brüllen aus dem Gebüsch ein wahr gewordener Alptraum brach.

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt