Kapitel 69

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„Stopp", rief Brianna und streckte einen Arm aus, um Finn daran zu hindern, noch näher zu kommen. „Du hast ihr gerade gesagt, dass du von Anfang an unehrlich zu ihr warst. Da kannst du jetzt nicht von Gefühlen sprechen! Du hältst dich ab sofort gefällig von ihr fern!"

Am Anfang", widersprach Finn, den Blick weiter auf mich gerichtet. „Nicht von Anfang an. Das war nicht okay, aber ich kann es jetzt nicht mehr ändern. Und es ändert auch nichts an den Dingen, die daraus entstanden sind. Bitte Lex, lass uns irgendwo in Ruhe darüber sprechen. Zu zweit."

„Kommt gar nicht in Frage!", protestierte Brianna, bevor ich die Chance hatte, selbst etwas zu erwidern. Dabei war ich gar nicht abgeneigt, mit Finn über alles zu sprechen. Natürlich fühlte ich mich belogen, benutzt und vor allem war ich endlos enttäuscht. Ich war Brianna dankbar, dass sie jetzt für mich einstand und mich davor schützen wollte, noch weiter verletzt zu werden. Doch sie sah sich nun eindeutig in dem bestätigt, was sie schon seit Jahren von Finn dachte, und würde ihm sicherlich keine Chance geben, sich zu erklären. Ich hingegen konnte die Seite von Finn, die ich in den letzten beiden Wochen kennengelernt hatte, nicht ignorieren. Ich musste ihm wenigstens zuhören, bevor ich ihn verurteilte, wie der Rest dieser Stadt.

„Ist schon in Ordnung, Bri", beruhigte ich meine beste Freundin. „Ich möchte hören, was er mir zu sagen hat."

Sie drehte sich zu mir um und sah mich fast schon mitleidig an. „Warum sollte er jetzt ehrlich zu dir sein? Du musst doch sehen, wie manipulativ er ist!"

„Danke, Bri", sagte ich und meinte es wirklich ernst. „Ich weiß, dass du es nur gut meinst. Aber ich möchte mit Finn reden. Alleine."

Ohne ihre Reaktion abzuwarten und ohne Jasper eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte ich mich um und ging mit zügigen Schritten zum Haus. Ich hörte, dass Finn mir folgte und ein paar Laufschritte einlegte, bis er zu mir aufgeschlossen hatte. Auf unserem Weg über die Terrasse und ins Haus sagte keine von uns ein Wort. Ich versuchte die Zeit zu nutzen und mich auf das vor mir liegende Gespräch vorzubereiten, aber in meinem Kopf war es so laut, dass ich keinen vernünftigen Gedanken fassen konnte. Mir war bewusst, dass ich ganz kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Eine Berührung von Finn würde mit Sicherheit ausreichen, um all meine Dämme brechen zu lassen. Dementsprechend war ich sehr erleichtert, als er hinter mir das Gästezimmer betrat, die Tür schloss und direkt dort stehen blieb, ohne mir weiter ins Zimmer hinein zu folgen. Ich setzte mich auf das Bett und griff nach einem Kissen, das ich fest umschloss, damit ich mich an irgendetwas festhalten konnte.

„Ich bin mir nicht sicher wie viel Zeit ich habe, bevor Brianna es sich anders überlegt, ins Zimmer gestürmt kommt und mich von dir wegreißt, deshalb fange ich einfach direkt an", sagte Finn und lehnte sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. Wenn Brianna tatsächlich hier reingestürmt kam, würde das möglicherweise schmerzhaft für ihn enden. „Jasper hat mich vor etwas mehr als zwei Wochen angerufen und mich angefleht, hierher zu kommen. Ich hatte einen Fotoauftrag für das folgende Wochenende und ohnehin sehr wenig Lust, nach Morson Hills zu fahren, aber er klang so verzweifelt, dass ich mir wirklich Sorgen gemacht habe. Also habe ich den Auftrag an einen Kollegen weitergegeben und mich in den nächsten Bus gesetzt. Meine Eltern waren ganz begeistert als ich hier aufgetaucht bin und im ersten Moment dachte ich, Jasper hätte mich einfach nur ausgetrickst, um noch mehr Pluspunkte bei meinen Eltern zu sammeln, indem er mich nach Hause holt. Aber dann sind meine Eltern weggefahren und Jasper ist buchstäblich vor mir zusammen gebrochen. Er hat echt richtigen Mist gebaut." Kopfschüttelnd fuhr Finn sich durch die Haare. „Ach, was soll's. Nach dem, was er sich da unten gerade geleistet hat, kann ich dir auch die ganze Wahrheit erzählen. Ich bin es echt leid, für ihn zu lügen. Er hat was mit einer Dozentin angefangen, was an sich schon gegen sämtliche Regeln verstößt, wie du sicherlich wissen wirst. Zusätzlich dazu hat er dann bei ihr Zuhause Prüfungen gefunden und kopiert, inklusive Lösungen. Allerdings ist das alles aufgeflogen, er ist selbstverständlich von der Uni geflogen, die Dozentin wurde ebenfalls suspendiert. Es war natürlich auch im Sinne der Universitätsleitung, die Geschichte nicht an die große Glocke zu hängen, weshalb unsere Eltern nicht informiert wurden, schließlich ist Jasper schon volljährig. Ihm wurde aber sehr deutlich gemacht, dass er gar nicht erst versuchen soll, sein Studium an einer anderen Uni fortzusetzen, zumindest an keiner Ivy. An der App für das Spiel hat Jasper schon ewig gearbeitet und jetzt hofft er, dass er Dad damit irgendwie überzeugen kann, ihm schon jetzt die für ihn vorgesehene Stelle zu verschaffen. Er hat mich gebeten, nein, angefleht, dass ich bleibe, das Spiel mitspiele und am Ende bezeuge, wie gut durchdacht und funktionsfähig die App ist. Das ganze Wochenende habe ich hin und her überlegt. Ich wollte nicht bleiben. Aber er ist mein kleiner Bruder und ich konnte ihn in der Situation auch nicht alleine lassen. Also bin ich geblieben und habe mich für das Spiel registriert, mit der festen Absicht, einfach gar nichts zutun und nur stiller Beobachter zu sein. Bis ich erfahren habe, dass ich ausgerechnet mit Briannas bester Freundin in einem Team gelandet bin." Er lachte kurz spöttisch auf. „Und ich kenne Jasper. Jasper hat eine panische Angst davor, zu versagen. Er hat gesehen, wie ich, sein großer Bruder, von der Familie behandelt wurde, als ich etwas getan habe, das nicht ihren Erwartungen und Forderungen entsprach. Und ich wusste, dass er mit allen Mitteln versuchen würde, sein Fehlverhalten zu vertuschen. Dich hatte er noch nicht von seiner perfekten Fassade überzeugt und ich habe gehofft, dass ich über dich vielleicht sogar an Brianna rankomme. So zu denken war völlig daneben, das weiß ich. Ich wollte dich benutzen und das tut mir unendlich leid. Ein paar Tage lang habe ich versucht mich dagegen zu wehren, dich zu mögen, aber ich wollte immer mehr Zeit mit dir verbringen und als wir uns geküsst haben..." Ich verstärkte meinen Griff um das Kissen. „...da habe ich echt Panik bekommen. Ich hatte Angst, dass Jasper Wind davon bekommen und dann ebenfalls versuchen würde, dich auf seine Seite zu ziehen. Obwohl ich selbst dich ja genauso hatte benutzen wollen, konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass Jasper dich als... als Werkzeug sehen würde. Und dann habe ich gelernt, dass ich ein verdammter Egoist bin. Ich wollte dich und deshalb habe ich entschieden, die Sache mit Jasper einfach auszublenden. Vielleicht war da auch ein kleiner Teil von mir, der eifersüchtig war und Angst hatte, dass du Gefühle für ihn entwickelst, wenn du mehr Zeit mit ihm verbringst als mit mir. Schließlich gibt es kaum einen Menschen, der uns beide kennt und mir den Vorzug gibt. Wie auch immer, ich hätte ehrlicher mit dir sein müssen."

Er verstummte und atmete sichtbar tief durch. Mein Gedanken waren noch immer ein heilloses Durcheinander, lauter Fäden die sich an den unterschiedlichsten Stellen miteinander verknoteten. Trotz meiner Sorgen und Ängste hatte ich mich auf Finn eingelassen, hatte aktiv entschieden, ihm zu vertrauen. Nun zu erfahren, aus welchen Gründen er dieses Vertrauen am Anfang hatte gewinnen wollen, schmerzte. Es schmerzte, obwohl ich ihm glaubte, dass er mich mochte. Eben im Garten hatte er von Liebe gesprochen. Diesem Gedankenfaden wollte ich nicht weiter folgen, denn er würde nur zu noch mehr Schmerzen führen, also verfrachtete ich ihn in die hinterste Ecke meines Kopfes.

Er mochte mich, ich liebte ihn, doch diese Gefühle waren auf einer Basis entstanden, die nun von tiefen Rissen durchzogen war und drohte, in sich zusammen zu brechen. Seit der Nacht im Zelt hatte ich meine Mauern von Minute zu Minute ein Stück zurück gebaut. Ich hatte mir erlaubt zu hoffen, dass Finn mich niemals verletzen würde, weil unsere Verbindung von Anfang an tiefer und bedeutsamer war, als alles was ich zuvor erlebt hatte. Doch nun hatte er mich verletzt. Mein nahezu bedingungsloses Vertrauen existierte nicht mehr und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Denn mein Herz wollte noch immer nur eines: Finn.

„Ich glaube dir", brachte ich schließlich leise über die Lippen. Vielleicht war es naiv, aber ich war fest davon überzeugt, dass er mir hier und jetzt, in diesem Raum, nichts als die Wahrheit erzählt hatte. „Ich glaube dir, aber es tut weh. Ich habe dir vertraut und jetzt..." Meine Stimme begann zu zittern und ich wusste, dass ich mich nicht länger zusammenreißen konnte. „Es tut einfach weh, Finn." Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen und er gleich mit. Ich erkannte schemenhaft, wie er auf mich zukam, bevor ich an der Bewegung der Matratze spürte, dass er sich neben mich setzte. Dann war ich plötzlich in seinen Armen und es fühlte sich so warm, so vertraut und so richtig an, dass mein Herz endgültig in zwei Teile riss und ich von tiefen Schluchzern durchgeschüttelt wurde.

„Ich weiß, Lex. Ich weiß", hörte ich Finn über mein eigenes Schluchzen hinweg murmeln. Seine Lippen berührten meine Stirn, bevor er sein Kinn auf meinem Scheitel ablegte und ich mein Gesicht in seinem T-Shirt vergrub. Es komplett durchnässte.

Ich könnte es schaffen. Ich könnte ausblenden, was passiert war und mich nur darauf konzentrieren, was er in mir auslöste. Ich könnte es ausblenden, aber nicht vergessen. Der Riss in meinem Herzen würde bleiben und kein Pflaster der Welt konnte ein zerrissenes Herz auf Dauer zusammenhalten. Ich musste mich dem, was passiert war, stellen. Ich musste in Ruhe herausfinden, was das alles für mich bedeutete. Aus meinen aktuellen Emotionen heraus eine Entscheidung zu treffen, wäre falsch, ganz egal wie diese Entscheidung ausfallen würde.

Mit Mühe gelang es mir, mich zu beruhigen, den Tränenfluss zu stoppen und meinen Atem zu normalisieren. Ich richtete mich etwas auf, doch Finn ließ mich nicht los.

„Das Spiel ist vorbei", sagte ich, ohne meinen Blick von seinem nun fleckigen T-Shirt zu lösen. „Ich nehme an, dass du noch bleiben wirst, bis sich die Situation mit Jasper geklärt hat, aber ohne das Spiel müssen wir beide keine Zeit mehr miteinander verbringen."

Kurz herrschte Stille. Dann räusperte sich Finn. „Du möchtest mich nicht mehr sehen?" Seine Stimme klang seltsam heiser, weshalb ich nun doch meinen Blick hob, um ihm ins Gesicht zu schauen. Seine Augen waren gerötet und leicht glasig. Eine einsame Träne löste sich aus deinem Augenwinkel und suchte sich ihren Weg seine Wange herunter. Blitzschnell wischte er sie weg.

„Ich traue mir selbst gerade nicht zu, die richtige Entscheidung zu treffen. Ich möchte dich küssen und so tun, als sei alles in Ordnung, weil ich mir sicher bin, dass das den Schmerz vorübergehend mildern würde. Aber eben nur vorübergehend."

„Bist du dir sicher?", fragte Finn und die Trauer in seiner Stimme war beinahe zu viel für mich. „Ich verstehe dich total und ich weiß, dass ich mir das alles selbst zuzuschreiben habe. Aber... ich werde nicht mehr lange hier sein. Damit möchte ich dich nicht unter Druck setzen, ich möchte nur, dass du dir sicher bist."

Ich war mir nicht sicher. Überhaupt nicht. Vielleicht beging ich gerade den größten Fehler meines Lebens. Aber vielleicht rettete ich mich auch vor dem größten Fehler meines Lebens. Ich nickte.

Finn ließ seine Stirn gegen meine sinken. „Ich werde dich vermissen, Alexis-Lexi." Erst als er die Tränen sanft von meinen Wangen küsste, realisierte ich, dass ich erneut weinte. 

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