Drei: Paranoia

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Doch statt nach Hause zu fahren setze ich mich in ein kleines Café in der Nähe von Lucas Wohnung. Schnell schreibe ich ihm noch eine SMS und frage ihn ob ich nachher vorbei kommen darf. In seiner Nähe fühle ich mich immer ein kleines bisschen mehr menschlich und genau das habe ich gerade nötig.
Nur wenige Sekunden später kam ein: Du musst.
Ich lächle, jetzt wo ich etwas getrunken habe fiel mir dies so viel leichter. Es ist schrecklich, wie abhängig ich von diesem roten Zeugs bin. Ich wünsche mir oft, dass es anders ist.

Das Café in dem ich sitze ist gut besucht, ich beobachte die Menschen ganz genau, manche von ihnen trinken nur kurz einen Kaffee, andere bleiben länger, es ist ein ständiges hektisches kommen und gehen, obwohl die Atmosphäre auf den ersten Blick ruhig wirkt. Als ein altes Ehepaar das Café betritt, zucke ich unmerklich zusammen. So viele Bilder ziehen in diesem Moment an mir vorbei, zu viele Gedanken.
Ich werde nie in meinem Leben so aussehen. Ich werde niemals alt und grau mit meinem Ehemann ein Café betreten. Ich werde niemals einen normalen friedlichen tot sterben. Ich werde nie Kinder oder Enkelkinder haben, nur ich. Jung wie die Jahrzehnte davor.

Das alt werden. Das ist wohl mit das einzige was ich vermisse. Bereits seit knapp zweihundert Jahren lebe ich jetzt schon. Zwei Jahrhunderte in denen ich viel erlebt habe, ich habe viele Leute kennengelernt und sterben sehen. Lucas kenne ich seit er fünfzehn Jahre alt ist. Doch sobald wir die Schule verlassen, werde ich auch ihn hinter mir lassen müssen. Denn wie soll ich ihm erklären das ich nicht älter werde? Ich kann ja schlecht mit vierzig sagen ich hätte eine gute Anti-Falten-Creme. Lucas zu verlassen wird der wohl schlimmste Abschied seit langem für mich. Die letzten drei Jahre waren die wohl friedlichsten meines Lebens und vorallem waren sie schön.

Manchmal ziehe ich es in Erwägung ihm die Wahrheit zu sagen, hin und wieder war ich sogar kurz davor. Doch ich habe es dann doch gelassen, weil es nicht nur die Angst ist, die mich abhält.
Denn der Rat der Vampire hat es sich zur Aufgabe gemacht, wissende Menschen unschädlich zu machen. Lucas würde alle Erinnerungen an mich verlieren und alles wäre umsonst oder im schlimmsten Fall würde er sterben.
Der Rat. Ich verziehe das Gesicht, allein bei dem Gedanken beginnt ein Gefühlschaos. Der Rat hat mir meine Eltern genommen und sie haben mich unerlaubt zu einem Vampir gemacht, dabei war ich damals erst sechzehn. Das Blut in unserer Familie ist zu stark oder so ähnlich. Der Rat fürchtet die Blutlinie der Monroes. Meine Eltern haben mich darüber nie eingeweiht, daher kann ich die Stärke nur auf physische Dinge zurück führen.

Erst als es schon sehr dunkel draußen ist, gehe ich zu Lucas. Es ist eine schwüle Nacht, wahrscheinlich wird es heute noch stark Gewittern.
Als er mir die Tür öffnet sind seine Augen vor Schreck geweitet. "Luce! Ist alles in Ordnung?"
"Klar mir geht's viel besser. Danke, dass du mich nach Hause gezwungen hast." Ich zwinkerte ihm zu, doch er bleibt wie erstarrt.
"Du wolltest doch schon vor einer Stunde kommen...", meint er völlig aufgelöst. So kenne ich ihn gar nicht, schließlich bin ich öfter mal spät dran.
"Woher die plötzliche Paranoia? Ich habe einfach die Zeit vergessen.", rechtfertige ich mich ruhig.
"Ich bin nicht Paranoid! Ich habe da nur so etwas im Gefühl...", sagt er besorgt und verschränkt seine Arme vor der Brust. Doch statt ernster zu wirken, habe ich bloß das Bedürfnis meinem schmollenden Hamster in die Backen zu zwicken.

"Ich glaube du hast einfach nur Hunger, Lucas. Rieche ich da etwa Tiefkühlpizza?" Ich hob anklagend den Finger. Doch dann lachen wir beide, so gefällt es mir besser.
"Willst du mitessen? Es ist genug da."
"Wir wissen beide das du eine Pizza problemlos alleine verdrückst!", wieder lacht er, dieses Mal weil er weiß, dass ich Recht habe.
Oh wie ich sein lachen liebe, besonders wenn ich der Grund dafür bin. Da konnte ich mir selbst nicht widersprechen, ich bin in seiner Nähe einfach ich selbst. Und es ist schön zu sehen, wenn ich genau damit jemanden eine Freundin sein kann.
Ich grinse zufrieden. "Schön, dass du lächelst, es geht dir wohl wirklich besser.", stellt er glücklich fest.

-

Am Ende aß er nicht nur eine Pizza, sondern auch noch einen Schokomuffin und trank zusätzlich einen Liter Cola. Ich hingegen nahm nichts zu mir, dass würde mit dem Blut nur meine Verdauung durcheinander bringen.
Als ich später auf die Uhr gucke stelle ich erstaunt fest, dass es bereits 24 Uhr ist. Ich mache Anstalten auf zu stehen, doch Lucas hält mich auf. "Übernachte doch hier. Dann musst du nicht mehr nach Hause laufen."
Ich schüttelte den Kopf. "Ich wohne doch gleich um die Ecke.", werfe ich ein und lächle ihn sanft an.
"Dann lass mich dich zumindest begleiten", warf Lucas ein und fuhr sich irgendwie nervös durch die Haare, was ist nur los mit ihm? Ich schüttel entschieden den Kopf, wahrscheinlich ist er nämlich einfach übermüdet. "Du musst genauso schlafen. Wir sehen uns dann morgen an der Bushalte, ja?"
Ich stehe bereits in der Wohnungstür. Er beugt sich vor und haucht mir einen Kuss auf die Wange. "Ich hab dich lieb", flüstert er. Ich bin total perplex, doch ich bringe dennoch ein "Ich dich auch.", zustande. Dann schließt sich die Tür.

Hätte er mich doch bloß nicht gehen lassen.

LUCINDA - Wenn die Sonne im Zenit stehtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt