Sechs: Unverschämt

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Natürlich, Will. Welch ein Zufall.

Er grinst mich provokant an und natürlich ist auch nur noch der Platz neben mir frei. Welch' Ironie des Schicksals, das schönste Klischee. Wenigtens kann ich Lucas jetzt beweisen, dass diese ganzen Teenie-Filme doch eine Spur Realität beinhalten. Er wird Augen machen.
Auch Mr. Harper scheint von dieser Situation amüsiert zu sein. Wahrscheinlich spricht mein Gesicht Bände. Wenn Sie wüssten das er mich umbringen wollte!

Fast schon erschreckend freudig setzt Will sich neben mich, sein schwarzer Rucksack fällt dabei lieblos zu Boden. Ein Geräusch, das ich als viel zu laut wahrnehme.
"Hi, ich bin Will", stellt er sich als vermeintlich Fremder vor und das Grinsen in seinem Gesicht bringt mich innerlich zum Kochen.
Lucas, zu meiner rechten, scheint hingegen sehr erfreut. "Hey, ich bin Lucas und das ist meine beste Freundin Luce."
"Oh, welch' schöner Name, ich nehme an die Abkürzung von Lucinda?"
"Oh ja, woher weißt du das bloß?", frage ich ironisch und verdrehe die Augen. Tatsächlich erachte ich diese Kombination für nicht sehr offensichtlich. Wer kommt schon auf so einen Namen?

"Was ist nur mit dir los? Er ist doch nett", flüstert Lucas mir zu. Doch Will hat es dennoch gehört: Vampirgehör. Zumindest hätte er es hören können, doch als ich zu ihm herüber linse, wirkt es anders. Er tut so als würde er dem Unterricht folgen, doch ich weiß es besser, er neigt den Kopf nämlich minimal in die Richtung unsere Mädchen Clique. Eine kleine Geste die wohl sonst niemanden aufgefallen wäre. Sie tuscheln über ihn, das kann man sehr deutlich sehen. Die blonden Köpfe eng beieinander, die Hände schützend vor den Lippen. Sie passen auch in meine Teenie-Film-Realität. Als ich auch ein wenig lausche, verstehe ich auch worüber sie reden: Sie überlegen ob sie ihn verführen können und aus irgendeinem Grund stört mich das. Wahrscheinlich, weil er mich vergangene Nacht umbringen wollte und diese Weiber ihn für gefährlich halten, ohne zu wissen wie Recht sie haben. Auf die Vampir-Nummer würden sie wohl auch widerlich abfahren.

Will lehnt sich zu mir, dabei fällt ihm eine kurze Strähne ins Gesicht. "Könntest du mich kurz küssen?", fragt er unverschämt grinsend, vermutlich hält er sich gerade für unwiderstehlich und heiß. Wobei letzteres leider der Wahrheit entspricht.
"Wie bitte?", fragte ich empört und definitiv auch überrumpelt. "Du wolltest mich umbringen!", erinnere ich ihn leise aber ziemlich wütend. Soll der heiße Macho sich doch von einer dieser Barbies küssen lassen. Die schmecken ihm sicher auch.
"Das war gestern, du solltest nicht in der Vergangenheit leben. Und außerdem würden die Mädchen noch eifersüchtiger werden.", er grinst breit und selbstverliebt. Außerdem kann er sich ein arrogantes Zwinkern wohl auch nicht verkneifen. Dabei merkt er sicher, dass ich vor Wut koche.

"Auf gar keinen Fall. Die hassen mich auch ohne dich schon genug! Außerdem wolltest du mich töten, Vergangenheit oder nicht."
Sicher, meine Argumentation ist schwach, auch weil sie verletzlich klang. Außerdem sollte ich mich nicht um ihre Meinung scheren, aber ich wollte nunmal eine entspannte 30. Schulzeit.
"Ich weiß auch, warum sie dich hassen.", meint er und wackelt mit den Augenbrauen. Jetzt hält er sich wohl für unwiderstehlich, heiß und schlau noch dazu.
"Ehrlich?", ich kenne den Grund nicht, das stört mich wieder. Vorallem weil ich so interessiert geklungen habe. Weiß er tatsächlich so viel? Oder hat er einen Plan von dem ich noch nichts weiß?
"Ich sag es dir..."
Ich will gerade etwas sagen, doch er ist noch nicht fertig gewesen.
"...wenn du mich küsst."

"Nein, ich kann das nicht.", und vorallem werde ich das nicht. Ich verdrehe die Augen. Sehe ich so billig aus?
"Lucinda, was können Sie nicht?" Mr. Harper schaut mich überrascht an, wahrscheinlich habe ich ihn gerade unterbrochen. Habe ich das doch so laut gesagt wie in meinem Kopf? Ungünstig, aber eine Lüge geht mir in der Regel leicht über die Lippen. Übung dafür hatte ich in den letzten zwei Jahrhunderten genug.
"Ich kann Will nicht seinen nächsten Raum zeigen, weil Sie mir etwas erklären wollten." Er nickt, doch die geplante Erklärung ist wohl doch unwichtiger als gedacht.
"Das verschieben wir. Unser neuer Mitschüler geht natürlich vor."
Ich nicke bedächtig, natürlich.

"Vor einem Jahr habe ich dich kennengelernt, Luce." Ich lache.
"Und ich dich", meine ich mit einem Grinsen auf den Lippen. Er lässt sich davon aber kaum beeindrucken und führt seinen Gedankengang fort.
"Ich muss dir gestehen, damals wollte ich dich als feste Freundin und so zum Spaß."
"Das dachte ich mir", meine ich, nun doch ein wenig ernster. Er nickt, worauf will er denn nun hinaus?
"Aber anders als jetzt kann ich es mir nicht mehr vorstellen." Erleichtert sinke ich zurück in seine Arme, auf die enge Couch. Ich habe deutlich schlimmeres befürchtet.
"Ich auch nicht Lucas, ich auch nicht."

"Na dann, zeig mir mal meinen Raum." Ich suche in der Menge mit meinem Blick nach Lucas, während Will das sagt, doch ich kann meinen besten Freund nirgends entdecken. "Wo ist er?", frage ich eher mich selbst als ihn und stelle mich nun schon auf Zehenspitzen, weil ich die Einbildung habe, dass würde die Situation erleichtern. Aber der Schulflur bleibt natürlich trotzdem überfüllt und unübersichtlich.
"Hab' ihn mit Sarah weggehen sehen. Die ist übrigens ein Werwolf.", sagt er locker und steckt seine Hände gerade in die Hosentaschen als mein Blick zu ihm fällt.
Ich stolpere gegen ihn, als ich auf meiner Zehenspitzen-Position kurz schwanke und hinterlasse auch bloß mit meinem Puder einen Make-up Fleck auf seinem weißen Hemd. "Oh, entschuldige. Obwohl, nein eigentlich tut es mir gar nicht leid."
Jetzt grinse ich. Er ignoriert das.
So wie er meine Stolper-Aktion komplett ignoriert, dabei war das für einen Vampir erbärmlich. Wer lässt sich bloß durch Worte so aus dem Konzept bringen?

"Du wusstest das nicht? Sie gehörte zum Rudel in New York Mitte. Doch sie ist seit zwei Jahren verstoßen. Liebeskummer, naja wenn man das so nennen kann.. Sie weiß nicht was du bist. Doch du solltest vorsichtig sein, falls sie die neue Freundin von Lucas wird." Während er mir das erzählt, versucht er mein Puder aus seinem Hemd zu bekommen, natürlich macht er es bloß noch schlimmer. Bis auf das verstoßen behalte ich von seinem Geschwafel eh nichts in meinem Kopf. Ich suche bloß noch einmal die Menge ab. Dann drehe ich mich zu Will, um seinen Blick lesen zu können und in Erfahrung zu bringen was davon eigentlich wahr ist, doch in diesem Moment küsst er mich. Drückt seine Lippen mehr hart als sanft auf meine. Ich bin wie erstarrt und will nach dieser Schrecksekunde sofort zum Schlag ausholen, doch er fängt meine Hand ab. Verschränkt dabei sogar unsere Finger, dass es gewollt romantisch aussieht. Dann löst er seine Lippen minimal und ich sehe sein widerwärtiges Grinsen.

"Sieh nicht hin, aber hinter dir sind fünf Mädchen die mich zu lieben glauben. Wenn du mich jetzt schlägst machst du es nur noch schlimmer. Komm, nimm meine Hand, ich zeige dir etwas." Ich starre ihn an, er glaubt doch wohl nicht allen ernstes das ich seine Hand noch länger halten werde! Gestern Abend wollte er mich noch umbringen und jetzt machen wir auf glückliche Mitschüler?
Was will er bloß?
"Nein", fauche ich leise und bringe endlich ein wenig mehr Abstand zwischen unsere Gesichter. Noch schlimmer kann es bezüglich der Clique eh nicht mehr werden, die hassen mich doch schon, weil ich existiere.
"Vertrau mir", fordert er frech und gleitzeitig sehr ernst, schaut dabei auch tief in meine Augen.
"Kann ich das denn?", frage ich leise und seine eisblauen Augen blitzen auf wie ein grelles Licht.

LUCINDA - Wenn die Sonne im Zenit stehtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt