Die halbe Wahrheit

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Albus' Sicht

"AAAAAAAHHHHHHHHH!!!!"
Außer meiner eigenen Stimme hörte ich noch zwei weitere schreien.
Ich sah hinter mich. Joel und Damian saßen aufrecht in ihren Betten, die Finger fest in ihre Bettdecken gekrallt.
"W-w-was ist das?!", stotterte Damian. Joel sagte kein Wort und schien vor Angst verstummt zu sein.
Ich drehte mich zurück zu dem Monster - und blickte in ein totenbleiches Gesicht.
Und im ersten Moment dachte ich, er sei tot. Ich dachte, Scorpius Hyperion Malfoy wäre tot!
Und mir blieb der Atem stehen. Doch dann sah ich das Funkeln in seinen grauen Augen, das Funkeln des reflektierten Lichts. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er lebte.
Doch wieso wirkte sein Blick trotzdem so glasig und weit weg? Und wo war das Monster?
"Sco - Scorpius? ", flüsterte ich. Meine Stimme war nicht mehr als ein leiser Hauch.
Aber irgendetwas schien ich mit ihm gemacht zu haben.
Scorpius schüttelte irritiert den Kopf.
Etwas fiel von seinen Schultern. Etwas Dunkles und Unförmiges.
Und dann realisierte ich, was es war.
Ich sah den leichten Grünschimmer und erkannte den Vorhang  seines Bettes. Nach ein paar Sekunden des Schweigens begann sich ein Gedanke in meinem Kopf zu formen.
Und dann musste ich schwach lächeln.
Das war das Monster. Einfach nur der Vorhang des Bettes auf Scorpius' Kopf.
Aber wieso war er geschlafwandelt? Und war es normal, dabei diese komischen zischenden Laute von sich zu geben?
Scorpius rieb sich verwirrt den Kopf und sah mich unsicher an.
Jetzt, wo ich beruhigt war, schaffte ich es sogar, die Schlange verschwinden zu lassen.
Scorpius sah mich noch verwirrter an und ich war mir ziemlich sicher, dass er gerade fragen wollte, was das alles zu bedeuten hatte.
Aber er hielt den Mund. Und ich hatte auch das Gefühl, dass wir vor Joel und Damian erst mal nichts sagen sollten.
"Was ist passiert? ", fragte Damian.
Ich lächelte halbherzig.
"Ähh...it's a prank!", rief ich. Mann, ich würde mir ja selbst nicht glauben.
In dem Moment ging eine andere Tür auf und ein stinksauerer Brandon kam heraus.
"Was schreit ihr so wie am Spieß?!", keifte er, "Es ist mitten in der Nacht und-"
Aber in dem Moment reagierte Scorpius und schmiss ihm die Decke über den Kopf. Und bevor er sich befreit hatte, rannten wir in unser Zimmer und schlossen ab.
"Malfoy! Potter!", schrie er wütend von außen und hämmerte gegen die Tür.
"Sei leise!", rief ich ihm zu, "Du willst doch nicht noch die anderen Wecken?"
Ich hörte ein Schnauben.
"Das wird Konsequenzen geben, für euch beide!"
Dann entfernten sich die Schritte.
Scorpius und ich setzten uns auf unsere Betten. Scorpius hatte sich ziemlich schnell gefangen und wir tischten Joel und Damian auf die Schnelle eine Lügengeschichte auf, dass dies alles nur ein dummer Scherz war. Egal was hier gerade passiert war, wir mussten um alles in der Welt verhindern, dass jemand davon erfuhr. Und je weniger eingeweiht waren, umso besser.

Scorpius' Sicht

"Albus?", flüsterte ich nach einer Weile, als es so aussah, als würden die anderen beiden schon schlafen.
"Ja?", kam die leise Antwort und zwei grüne Augen blickten mich an.
"Was...was ist da mit mir passiert?", fragte ich. Und etwas zu viel Angst als ich beabsichtigt hatte klang in meiner Stimme mit.
Die grünen Augen sahen mich entsetzt an.
"Das weißt du nicht mal selbst? ", fragte er erschrocken.
Ich schüttelte den Kopf.
"Bitte, was hab ich gemacht?"
"Du kannst dich an nichts erinnern? "
Ich schüttelte den Kopf. Alle Erinnerungen waren wie wegradiert.
Ich wusste gar nicht, was ich in den letzten Stunden gemacht hatte.
Alles, woran ich mich erinnern konnte, war das Buch vor dem Einschlafen. Ich hatte einige Zeilen gelesen, dann weggelegt und war erstaunlich schnell eingeschlafen.
Es war, als wäre eine Flutwelle über mich geschwappt. Eine warme, beruhigende, trügerische Flutwelle, die dir das Gefühl gibt, als wollest du einschlafen und nie wieder aufwachen.
Aber jetzt war das alles andere als beruhigend. Ich war geschlafwandelt! Das hatte ich noch nie zuvor getan!
"Albus", fragte ich, "was hab ich gemacht? Hab ich irgendwas gesagt?"
Albus biss sich auf die Unterlippe und antwortete nach einiger Zeit.
"Naja, nicht ganz. Du hast nichts gesagt, aber...gezischt "
"Gezischt?!", fragte ich und in meinen Magen kroch eine unangenehme Vorahnung.
"Albus, wie meinst du das, gezischt? Meinst du das wie...wie-"
"Wie eine Sprache", sagte er und das schlechte Gefühl verstärkte sich.
Und ich hatte kaum noch genug Mut dazu, die Gedanken, die sich in meinem Kopf bildeten, auch wirklich auszusprechen. Denn würde ich sie aussprechen, dann wäre es wie eine Bestätigung, dass dies alles real und nicht nur Einbildung ist.
Aber ich musste es sagen. Ich wusste, dass es nichts bringt, es zu verleugnen. Albus würde es bemerken, dass ich ihn anlüge. Und man belügt seine Freunde nicht.
Ich...ich musste ehrlich sein.
"Meinst du", begann ich mit erstickter Stimme, "Meinst du, ich habe Parsel gesprochen?"
Eine Stille lag in der Luft wie klebriges Harz. Und ich wusste, dass Albus den Atem anhielt.
"Parsel? ", fragte er.
"Ja. Parsel. Du weißt schon, die Sprache der Schlangen...", versuchte ich zu erklären, ließ dabei aber absichtlich den wichtigsten Punkt weg. Und Albus hatte nun einmal das gewisse Talent, genau diesen Punkt im einem Satz zusammenzufassen:
"Ich weiß was Parsel ist - Salazar Slytherin hat es gesprochen und...und Voldemort, der letzte Erbe Slytherins..."
Seine Worte blieben in der Luft hängen und ich wünschte, ich wäre an ihnen erstickt. Aber man kann an Worten nicht ersticken. Zumindest nicht physisch, aber psychisch fühlte es sich genau so an.
"Aber", begann Albus, "Es muss doch einen logischen Grund dafür geben. Ich meine, sowas kann nicht plötzlich von einen Tag auf den anderen kommen. Es muss eine Ursache dafür geben!"
Und ich spürte, wie mir heiß wurde.
"Albus ", fing ich an, "ich hoffe, du bist nicht sauer, aber...aber ich war in letzter Zeit nicht besonders ehrlich zu dir. Ich, ich hatte Träume. Aber keine normalen, sondern gruselige. Ich stand in Pfützen und vor mir eine runde Tür. Aber ich konnte alles nur verschwommen sehen. Ich habe versucht, die Träume nicht zu beachten, aber sie kamen wieder und jetzt habe ich das Gefühl, dass sie mir etwas sagen wollten. Wenn man plötzlich schlafwandelt und komische Sachen sagt, dann ist das ein Grund, der Sache endlich Beachtung zu schenken."

Für einen Moment schwieg Albus und ich biss mit wieder auf die Unterlippe. Die Wunde von vor ein paar Wochen riss wieder auf und ich schmeckte den salzigen Geschmack meines Blutes. Ich fasste mir mit den Fingern an die Lippe und sie wurden leicht rot. Aber im Moment gab es wichtigere Dinge als ein bisschen Blut.
"Albus, bist du sauer?", fragte ich ängstlich und hatte noch mehr Angst vor der Antwort.
Und die kam jetzt.
"Nein"
Ein Stein fiel mir vom Herzen.
Doch Albus war noch nicht fertig.
"Ich bin nicht sauer, aber wieso hast du nie was gesagt?", fragte er.
Ich leckte mir über die blutige Lippe.
"Ich...wollte dich da nicht mit reinziehen. Ich dachte, wenn ich die Träume eine Zeit lang nicht beachte, dann hören sie vielleicht auf."
"Das haben sie aber nicht, oder?"
"Nein. Hab ich doch gerade gesagt!", wurde ich etwas laut.
"Pssst!", zischte Albus, "Ich helfe dir, rauszufinden, was los ist..."
"Aber?", hakte ich nach. Denn es gibt immer ein 'aber'.
Und das hier war auch keine Ausnahme.
"Aber ich erwarte, dass du ab jetzt ehrlich zu mir bist!", sagte Albus.
Ich nickte schnell.
"Ja, mach ich. Versprochen."
Albus lächelte etwas traurig und ich lächelte auch etwas traurig zurück.
"Und du musst mir versprechen ", antwortete ich so leise wie möglich,  "dass du zu mir hältst. Egal, was wir rausfinden werden."
"Ja, versprochen ", kam genau so leise die Antwort zurück,  "Dafür sind Freunde doch da, oder?"
"Ja", sagte ich. Und in Gedanken wiederholte ich noch 'Ja, Freunde.'
Es war ein schönes Wort. Und es bedeutete viel mehr, als man sich im ersten Moment vorstellen konnte.

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