Einsicht

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Albus' Sicht

Wir mussten nicht besonders schlau sein, um zu verstehen, was gerade passiert war. Aber trotzdem konnten wir nicht begreifen, was gerade passiert war. Manchmal ist das so. Manchmal ist das menschliche Gehirn einfach zu klein, als dass es einen gewaltigen Fakt verdauen könnte.
Es ist so, als würde man versuchen, sich vorzustellen, wie groß das Universum ist.
Unmöglich.
Wie kann man sich Unendlichkeit vorstellen?
Wie kann man begreifen, dass es längst Mächte gibt, die stärker sind, als Leben und Tod?
Bellatrix Lestrange nahm uns unsere Zauberstäbe. Wir waren zu geschockt, als dass wir hätten reagieren können. Denn am Ende waren wir genau das, was alle Erwachsenen in uns sahen: Kinder.
Wir waren Kinder, die Fehler machten. Große, schwerwiegende Fehler.
Und das einzige Schlaue, was wir seit Monaten getan hatten, taten wir nun. Wir schwiegen.
Wir wehrten uns nicht, denn wir hatten keine Chance.
In diesem Moment begriff ich, dass wir es so richtig, absolut, vollkommen, dermaßen verkackt hatten, wie man eine Sache nur verkacken kann.
Es gab einfach keinen anderen Ausdruck dafür. Denn alles andere hätte die Katastrophe nur abgemildert. Aber es war an der Zeit, die Augen zu öffnen. Wir waren am Ende. Wir hatten es verdammt noch mal verkackt.
Und deswegen ließen wir zu, dass Bellatrix Lestrange ihres Weges ging. Und es würde ein Weg aus Tod und Verderben sein.

Das große, runde Tor fiel zu. Es verrastete. Wir blieben zurück. Wir waren allein. Aber es drohte keine Gefahr mehr von hier drin.
Sie war schon längst draußen und verbreitete sich.
Wir waren daran Schuld.
Ich ließ mich auf den Boden sinken und vergrub den Kopf in den Armen. Ich wünschte mir, ich könnte allein sein. Denn manchmal kann man Schmerz und Entsetzen nur verarbeiten, wenn man alleine ist.
Und ich wünschte mir, ich könne mich vergraben. Ich wollte allein sein und nachdenken können. Ich hatte die ganze Zeit gehandelt. Immer ging es nur darum, endlich etwas zu tun.
Dabei hatten wir vollkommen vergessen, einmal anzuhalten und nachzudenken.
Ich glaube, das ist die wahre Lehre hinter dem Alter. Wenn man älter wird, wird man nicht langweiliger. Nur weiser. Besonnener. Geduldiger.
Ich wünschte, diese Erkenntnis hätte mich schon eher getroffen.
Aber anscheinend war solch eine Katastrophe erst nötig, damit wir wirklich begriffen.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging. Aber das war egal. Zeit ist relativ.
Sie ist unbegreiflich. Man kann sie nicht verstehen. Sie ist einfach da und fristet ihr Dasein. Sie hat nur einen Namen, aber keine Definition. Und nur mit der Zeit kann man lernen zu begreifen und innerlich wachsen.
Nur leider lernt man oftmals erst hinterher.
Nicht einmal Rose ist perfekt. Ich dachte immer, sie wüsste alles. Aber da lag ich falsch. Es waren die grundlegenden Dinge, die sie nicht beherrschte. Freundschaft. Gefühle. Glück. Und leben.
Sie wusste nicht, wie man richtig lebt. Sie versteckte sich lieber in Büchern, als zu Leuten zu gehen. Eigentlich war sie verletzlich. Sehr sogar. Sie versuchte sich mit Wissen abzusichern. Sie dachte, so könnte sie unangenehme Situation vermeiden.
Aber manche Dinge kann man nicht in Büchern lernen.
Manche Dinge muss man einfach leben.
Und jetzt erst verstand ich, dass ich mehr als nur einen Fehler gemacht hatte. Ich hatte sie im Stich gelassen.
Ja, sie hatte mich nicht so akzeptiert, wie ich bin. Aber hatte ich je versucht, das Gleiche für sie zu tun?
Ich erinnerte mich an eine Zeit, in der Glück eine Selbstverständlichkeit war.  In der wir uns hatten bedenkenlos amüsieren können. In der wir einfach Freunde waren. James und Lily und Hugo und Rose und ich. Wie eine große Familie. Diese Zeit schien schon weit zurück zu liegen, wir hatten sie verlassen. Vielleicht unbewusst. Vielleicht, weil wir lernen wollten.
Und man kann nie lernen, ohne Schmerz zu erleiden.

Ich sah zu Scorpius. Ich dachte daran, wie wir angefangen hatten. Wir konnten uns erst nicht ausstehen. Und nun waren wir beste Freunde. Zeit.
Das echte Wunder der Natur.
Es war komisch, wie verschieden und doch gleich man sein konnte. Ich glaube nicht, dass Scorpius' Kindheit sehr der meinen glich. Er hatte nie diese große, bunte Familie gehabt wie ich.
Und trotzdem. Wir hatten dieselben Probleme.
Vielleicht hat Gott oder wer auch immer, vielleicht hat das Schicksal einen Plan, in dem alles steht, was die Seele lernen muss, bevor sie stirbt. Und bevor man diese Dinge nicht gelernt hat, ist man mit dem Leben noch nicht fertig. Es ist vielleicht so, wie das letzte bisschen Kraft, um zu entscheiden, dass man loslassen will.
Erst wenn man es schafft, entgültig keine Angst mehr vor dem Tod zu haben, weil es auf der Welt nichts mehr gibt, dass man hätte begreifen können, erst dann kann man loslassen.

Ich hob den Kopf, weil ich dachte, ich hätte genug nachgedacht. Nicht für immer. Nur für den Augenblick.
Ich hatte nicht gemerkt, wie Rose aufgestanden war. Und ich hatte noch weniger gemerkt, wann sich Scorpius zu ihr an die Wand gesetzt hatte.
Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Dann lächelte ich.
Ich stand langsam auf. Mir tat so ziemlich alles weh, was einem hätte wehtun können, aber es war okay. Schmerz ist okay. Er gehört zum Menschsein.
Ich setzte einen Fuß vor den anderen. Und mit jedem Schritt hatte ich das Gefühl, mich von etwas Altem zu entfernen und auf etwas Neues zuzulaufen.

Ich setzte mich auf die andere Seite neben Rose. Im ersten Moment schaute sie mich überrascht an. Und es war das erste Mal seit langem, dass ich ihr wirklich in die Augen sah.
Ich sah so viel Enttäuschung in ihnen. Und so viel Kraft und Mut, dass ich beinahe vergaß, dass sie nur meine Cousine war. Sie war eine echte Gryffindor.
Und zum ersten Mal seit langem war das okay. Zum ersten Mal seit langem ließen wir die Oberflächlichkeiten ruhen. Es gab so viel zu sagen, aber viel zu wenig Worte.
Nicht mal eine ganze Sprache reichte dafür aus.

"Hat ziemlich lange gedauert, was?", fragte Rose nach einer Weile. Sie hatte geweint. Das sah man an ihrem Gesicht und hörte es an ihrer Stimme.
Scorpius sah sie fragend an.
".. dass wir zueinander finden. Die Feindschaft begraben. Einen Neuanfang wagen", erklärte sie.
"Das hat sich gereimt", meinte ich.
"Vielleicht war das ja Absicht", antwortete sie.
Da war keine Kälte mehr in ihrer Stimme. Und für einen Moment saßen  wir alle nur da. Genossen die Stille. Das Alleinsein ohne Einsamkeit.
Jeder ging seinen eigenen Gedanken nach. Es war schön, dass wir endlich nebeneinander sitzen konnten, ohne zu streiten. Ohne uns das Leben selbst schwer zu machen.
Rose hatte Recht.
Es hatte wirklich lange gedauert, bis wir hatten Freunde werden können.
Und dann war es einfach geschehen. Aber manchmal braucht man auch einfach ein ziemlich großes Ereignis, um Menschen zusammenzubringen.
Groß genug, um alles davor zu überdecken.
An diesem Tag hatten wie etwas sehr wichtiges gelernt.
Vergebung.

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