Begegnung - 1

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Der Wecker hatte mich Frühs aus einem tiefen Schlaf geweckt. Ich war die Nacht zuvor zu lange wach gewesen und so war es die reinste Folter, als er um sieben Uhr früh anfing loszukreischen. Der Radiosender hatte sich verstellt und statt der sonst so angenehmen Stimme des Radiokommentators, der die Nachrichten freundlich herunterlas, hörte ich nichts weiter als ohrenbetäubendes Rauschen.

Verschlafen streckte ich meine Hand aus und tastete auf den Nachtisch herum. Ein Buch fiel auf den Boden und man hörte ein leises Klirren gemeinsam mit einem dumpfen Aufprall.
„Oh verdammt!", stieß ich entsetzt aus und war sofort hellwach.

Ich fuhr hoch, schaltete den Radio aus, machte die Nachttischlampe an und blickte auf den Boden. Das Buch „Pride and Prejudice" lag dort und wie es so sein musste auch einige Scherben, gemeinsam mit meinem Brillengestell.
„Scheiße, scheiße, scheiße!", fluchte ich verzweifelt vor mir her, während ich das Unglück in Augenschein nahm. Das würde ein gewaltiges Problem während der Vorlesung an der Uni werden. Ich konnte schon die Tafel von der ersten Reihe im Hörsaal aus nicht lesen, geschweige denn die gekritzelten Notizen auf dem Papier meines Sitznachbars, so dass ich die Informationen auch nicht von ihm abschreiben konnte. Der Tag würde ja ganz sicher heiter werden.


Ich ließ das ungemachte schmale Bett gemeinsam mit meiner nun kaputten Brille hinter mir und nahm nur das englische Buch mit, als ich den kleinen Raum durchquerte und in den ebenfalls sehr kleinen Essbereich mit den vier unterschiedlich gestrichenen Türen in den Farben Schwarz, Weiß, Hellblau und Mintgrün ging.

Ein gelbweißlicher Kühlschrank thronte in der einen Ecke des Raumes. Neben ihm standen eine verkratzte Billigküchenarbeitsfläche und ein Waschbecken und über dieses hing ein Küchenschrank leicht schräg an der Wand.

Das Herzstück des Essbereichs bildete ein kleiner roter Tisch, gemeinsam mit zwei hellgrünen Plastikstühlen auf Eisengestell. In einem pinken Becher, der auf der rotgefärbten Fläche stand, befand sich der einzige Schmuck, den das grün tapezierte Zimmer mit den hellgrünen Ornamenten und der dreckig weißen Decke besaß, ein bunter Blumenstrauß aus Butterblumen, wilden Margarethen und himmelblauen Kornblumen. Eine einzige rote Klatschmohnblüte war in der Mitte des Straußes zu sehen, doch ihre Blätter waren bereits schrumpelig und hatten ihre einst so strahlende blutrote Farbe schon fast gänzlich verloren.

Ich ging auf den Kühlschrank zu und holte mir eine Packung Joghurt heraus. Dann öffnete ich den Schrank und versuchte im bunten Gewirr nicht zusammenpassender Teller, Becher und Tassen einen Löffel zu finden. Schließlich gab ich mich mit einem Werbegeschenk aus billigem Plastik zufrieden, das gut sichtbar auf einen übrig gebliebenen bunten Papierpartieteller thronte.

Lustlos setzte ich mich an den Tisch, blickte das Joghurt an und versuchte mir vorzustellen, dass es etwas Leckeres war, vielleicht ein Joghurt mit frischem Obst oder etwas dergleichen. Doch es wollte mir einfach nicht gelingen diese öde Mahlzeit in etwas Köstliches zu verwandeln. Zu lange ernährte ich mich schon von diesem Milchprodukt, weil es im Sonderangebot gewesen war.


Die schwarze Tür ging auf. Meine Wohnungsgenossin Jane kam nur mit einem langen schwarzen Top bekleidet, dass ihr bis zur Mitte der Oberschenkel ging, herein geschlurft. Sie hatte tiefe Ringe unter den warmen braunen Augen. Ihr langes schwarzes Haar war verflixt und ungekämmt. Sie roch etwas streng und ihr hätte wohl eine Dusche gut getan. Als sie in den Kühlschrank blickte, verzog sie das Gesicht, schnappte sich jedoch ebenfalls einen Joghurt.
„Ich nehme an, es wird auch in nächster Zeit nichts Besseres geben?", fragte sie mich mit einer hochgezogenen Augenbraue so als hoffte sie, ich würde sie doch noch irgendwie vor dem Joghurt retten indem ich einkaufen ging.
„Tut mir leid, es ist auch in diesem Monat nicht viel übrig geblieben für eine gesunde Ernährung. Wenn du vielleicht etwas zu dem Essensgeld drauflegen willst, das ich übrigens bis jetzt allein gezahlt habe, dann könnte ich etwas Besseres besorgen." Sie seufzte, holte sich ebenfalls nach längerer Suche im Schrank einen Plastiklöffel heraus und setzte sich mir gegenüber.


„Du weißt, dass das im Moment nicht geht." Mit den Fingern strich sie sich eine widerborstige Strähne ihres Haares aus dem Gesicht und betrachtete sie nachdenklich.
„Geht es wieder um ihn?", fragte ich vorsichtig nach. Ich wusste dieses Thema war für sie eine heikle Angelegenheit.

Jane seufzte und nickte. „Er lädt mich zwar immer wieder in Diskos und dergleichen ein, aber meistens zahle ich die Getränke selber. Die Dinger sind da verdammt teuer! Aber ich kann es mir einfach nicht leisten abzusagen. Was ist, wenn er mich dann uninteressant findet?"
Ich stöhnte auf. Dieser Gedanke war einfach nur total verdreht. „Jane, niemand findet dich uninteressant. Du bist die beste Künstlerin die ich kenne, du hast einen total sexy Körper und..."
„Und ich bin arm wie eine Kirchenmaus.", unterbrach sie mich.
„Jane! Was hat dein Gehalt bitte mit dem Typen zu tun?!"

Sie schwieg eine Weile. Ich stutzte und fragte dann vorsichtig nach: „Jane, er hat doch nichts mit deinem Gehalt zu tun, oder?"
Sie schien ehrlich zerknirscht zu sein. „Weißt du, um ehrlich zu sein..." Sie schwieg wieder.
Ich zog eine Augenbraue hoch. So kannte ich meine Freundin gar nicht. Normalerweise waren ihr materielle Güter ziemlich egal. „Was um ehrlich zu sein?"
Sie seufzte, legte ihren Löffel beiseite und stützte ihren Kopf mit den Händen ab. „Ich werde nie wieder so eine Gelegenheit bekommen. Er kommt aus einer guten Familie und es wäre..."
„Jane!", rief ich entsetzt aus. „Sag nicht, dass du mit diesem Typ nur zusammen bist um dein Taschengeld zu verbessern!"
Nun sah sie mich ehrlich schockiert an. „Nein, so ist es nicht. Was denkst du von mir? Ich mag ihn wirklich sehr gerne und das Geld ist nur ein weiterer Grund. Weißt du, ich will ihn nicht verlieren. In meinem tiefsten Innersten will ich das wirklich nicht, aber was könnte ihn an jemanden wie mich binden? Ich gehöre zur Unterschicht, bin nicht so schön wie eines der Mädchen, die er jederzeit haben könnte und verbringe sehr viel Zeit mit meiner Ausbildung zur Fachverkäuferin und die restliche Zeit bin ich mit meinen Skizzen beschäftigt. Was sollte ihn bitte an mir halten? Ich möchte nicht noch ein weiteres Mal enttäuscht werden..." Sie brach ab.
Mit gerunzelter Stirn versuchte ich sie zu verstehen. „Und die Begründung mit dem Geld hilft dir einzureden, dass du ihn gar nicht so sehr liebst und dass du nicht verletzt wirst, wenn du dich weiter mit ihn triffst und er dich jeden Moment verlassen könnte?"
Sie zuckte leicht mit den Achseln. Verzweifelt blickte sie auf ihren Joghurt herab.
„Ach Jane!", ich stand auf und umarmte meine Wohnungsgenossin, wie sie es auch schon so oft bei mir getan hatte. „Du bist zwar vielleicht nicht reich, doch ich habe wirklich nicht gelogen als ich gesagt habe, dass du klasse aussiehst. Und sieh das mit deiner Ausbildung so, du versucht etwas zu verändern und dir ein gutes Leben zu erarbeiten, das ist viel mehr als die meisten anderen in deiner Lage machen würden! Dieser Typ kann froh sein, dass so jemanden wie du überhaupt Interesse an ihm hat!"


Jane stieß ein winziges unterdrücktes Schluchzen aus und sie umarmte mich fester. „Danke, Kate!"
„Keine Ursache." Ich streichelte ihr sanft über das Haar, verzog jedoch das Gesicht als mir der Geruch wieder entgegenschlug, der sie umgab. „Du brauchst wirklich eine Dusche!"
Jane lachte: „Das ist Kate wie sie leibt und lebt. Erst tröstet sie einen und dann wirft sie einen in die kalte Traufe."
„Wohl eher in die kalte Dusche!", verbesserte ich sie gespielt ernst, bevor ich in ihr Lachen miteinstimmte.
Jane blickte auf ihren angebrochenen Joghurt hinunter. „Willst du den auch haben?", fragte sie dabei.
Ich überlegte für einen winzigen Augenblick. Ich hatte wirklich keinen Hunger auf Joghurt, doch er war erst angebrochen und einen fast ganz vollen Joghurt wegschmeißen? Das kam nicht in die Tüte! Also nickte ich, während Jane aufstand und in das Bad hinter der weißen Holztür verschwand. Ich war gerade dabei meinen Joghurt zu verspeisen, als das Wasser anging. Rasch legte ich meinen Löffel auf den Tisch um mich nicht vor Lachen zu verschlucken, als auch schon der Schrei: „KALT!!!" Durch die gesamte Wohnung hallte. Danach folgten einige etwas leisere Flüche, die aber wohl immer noch unsere gesamte Wohnungsnachbarschaft aufweckten mussten. Ich grinste und aß meine zwei Joghurts nun um einiges genüsslicher.




Verlorene der Nacht - 1. Band der Tagwandler ReiheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt