Layna - 2

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Sie schwieg für einen Moment, als würde sie das alles noch einmal miterleben, dann fuhr sie fort: „Ich irrte lange in den Straßen umher, vollkommen verstört, ständig weinend und als ich endlich am Abend in das Zimmer zurückkehrte, wo wir wohnten, waren dort Gangmitglieder eingedrungen. Sie hatten die Leiche ihres Freundes in der Gasse gefunden und suchten nun nach dem Mörder. Deshalb waren sie in unsere Wohnung. Als ich durch die Tür kam bedrohten sie gerade meine kleine Schwester. Sie meinten sie würden ihr einziges Kuscheltier, einen ziemlich verwahrlosten und ramponierten Teddy, mit einem Messer aufzuschlitzen, wenn sie nicht antworten täte. Ich stürmte hinein und versuchte die Gangmitglieder mit dem Messer zu verletzen, mit dem ich bereits einmal getötet hatte, doch mehr als einen Überraschungstreffer an einem Bein schaffte ich nicht. Schnell begriffen die Gang Mitglieder was geschehen war, als sie das Messer ihres Freundes, an dem immer noch der grausige braun-rote Ton hing, in meiner Hand sahen. Sie packten mich im Nacken und wollten zuerst meine kleine Schwester vor meinen Augen umbringen und dann mich. Doch da kam der Anführer dieser Schlägerbande herein. Er befahl ihnen aufzuhören, meinte ob sie sich nicht schämten und wandte sich dann mir zu. Er erkannte, dass in mir das Verlangen brodelte zu kämpfen. Ich schien keinerlei Angst, außer der Sorge um meine Schwester zu besitzen und so nahm er uns beide auf. Das war ein geschickter Schachzug, denn so musste ich immer Furcht um meine kleine Schwester haben. Ihr ging es zwar im Diebesunterschlupf besser als zuhause, doch ich durfte sie nur dann sehen, wenn ich all die Aufgaben, die mir gestellten wurden perfekt erfüllt hatte. So vergingen teilweise Wochen, Monate bis ich sie ein weiteres Mal sehen konnte und die Zeiträume wurden immer größer. Bereits mit fünfzehn hatte ich viel mehr Leute umgebracht als ich mit den Händen und Füßen zählen könnte. Ich habe Menschen erpresst, mit Drogen gedealt und sogar Leute gefoltert. Niemals hatte ich so ein Leben gewollt, doch für meine kleine Schwester, die in den Armen des Ungeheuers ruhte, tat ich all dies ohne zu zögern. Doch ich habe sie nicht beschützen können. Die Gang geriet in einen Streit mit einer viel mächtigeren. Es ging um Territorium und Abgaben, die wir nun an sie verrichten sollten. Wer genau angefangen hatte, ob wir im anderen Gebiet gewildert hatten und sie so wütend geworden waren oder ob die anderen einfach nur ihre Macht demonstrieren wollten, weiß ich nicht."
Elfe zog ihr Oberteil aus, darunter trug sie nichts als ihre blanke Haut. Sie wand mir den Rücken zu und ich konnte eine riesige Narbe sehen, die sich vom oberen rechten Schulterblatt bis zur linken Hüfte zog. „Als die andere Gang angriff war ich da. Ich versuchte das Zimmer meiner Schwester zu verteidigen, nachdem es keinen freien Ausweg mehr gab, doch ich war zu schwach. Es waren zehn Männer, die versuchten das Zimmer meiner Schwester zu stürmen. Ich hatte mich davor im Gang positioniert, doch ich hatte keine Chance gegen sie. Ich wurde an den Armen festgehalten und immer wieder geschlagen, während sie meine kleine Schwester herauszerrten. Ich versprach ihnen alles zu tun, was sie wollten, wenn sie meine Schwester frei ließen. Sie vergewaltigten mich vor ihren Augen und dann hielten sie mein Messer an ihre Kehle. Die schneidende Kraft der Furcht erwachte in mir. Mit einem Schrei, kämpfte ich weiter und schaffte es tatsächlich frei zu kommen. Mit all meiner Kraft stieß ich den Typen mit dem Messer von meiner Schwester weg. Doch die Schweine hatten damit gerechnet. Einer von ihnen hatte einen dünnen Draht dabei. Er riss meine Schwester an sich, legte die Schlinge aus Metall um ihren zarten Hals und strafte dann die Schnur. Die weiche Haut meiner lieben Schwester leistet den Bruchteil einer Sekunde Widerstand, dann sprudelt ihr Blut hervor. Ich geriet in eine wilde Raserei. Die Männer versuchten mich zu stoppen, doch ich war zu stark. Der Zorn in mir war so lodernd und die Trauer entfachte ihn noch ins unendliche weiter. Ich hatte in diesem Moment keine Angst vor meinem Tod. Im Gegenteil, ich wollte ihn, doch man gab mir nicht diese Gnade. Ein Mann packte sein Messer und zog es mir über den Rücken. Sie lachten und schauten zu, während ich unter dem Blutverlust zusammenbrach."
Elfe seufzte. „Ich litt höllische Quallen, doch man fand mich. Die Polizei dachte ich sei eine Unschuldige, eine Geisel wie meine Schwester und so kam ich in ein Krankenhaus und später in ein spezielles Betreungsheim für traumatisierte Jugendliche. Doch im Gegensatz zu diesen Kindern dort fühlte und benahm ich mich ganz anders. In mir war keine Angst und auch kein Zorn mehr, aber auch keine Leere wie bei vielen anderen. In mir war nur die kalte Gewissheit, dass jeder der für den Tod meiner Schwester verantwortlich war, sterben musste. Ich floh aus der Anstalt und brachte jeden einzelnen von ihnen zur Strecke. Jeden mit einem dünnen Draht, damit alle denselben Tod erfuhren, den auch meine kleine Schwester erlitten hatte. Ich merkte nicht in welches Monster ich mich verwandelte, doch als ich den letzten umgebracht hatte, den ich zuvor tagelang folterte, kam mir die Erkenntnis. Als ich bemerkte, was ich geworden war, wollte ich mir selbst das Leben nehmen, doch in diesen Moment kam er." Sie schwieg und zog das T-Shirt wieder an.
„Wer ist er?"
„Ein Vampir. Er bot mir ein neues Leben an und aus irgendeinem Grund willigte ich ein und brachte mich nicht um. Vielleicht war in meinem Körper irgendwo noch ein Funke der leben wollte oder ich weiß auch nicht..."
Eine kurze Stille legte sich über uns. „Auf jeden Fall bin ich dir gegenüber so führsorglich, weil du mich an meine Schwester erinnerst. Du gleichst allerdings auch meinem eigenen damaligen Selbst. In dir kann ich das Spiegelbild von mir, aber auch das meiner geliebten Schwester sehen."
Elfe sah mir in die Augen und ich sah den Schmerz darin. Er saß viel zu tief, als dass Tränen ihn wegwaschen könnten und er war viel zu Verankert mit Schuldgefühlen, als dass er je wieder verblassen täte. Ich spürte wie mir an ihrer Stelle die Tränen in die Augen stiegen. Ich umarmte Elfe. Sie schien für einen Moment perplex zu sein, dann drückte sie mich sanft an ihre Brust. Mehrere Minuten blieben wir einfach so und trösteten uns gegenseitig. „Wie hieß sie?", fragte ich schließlich nach, als wir uns wieder voneinander lösten.
„Layna. Meine Mutter meinte sie würde Licht in unsere Familie bringen. Wahrscheinlich erinnerst du mich deswegen so an sie."
Ich lächelte. „Layna, das ist ein schöner Name."
Elfe lächelte zurück, dann verwandelte sich ihr Blick in Entschlossenheit. „Also, wollen wir unsere Kameraden da mal raushauen?"
„Klar", stimmte ich mit einem breiten Grinsen zu. Ich spürte wie die Nervosität wieder wuchs, doch diesmal war da noch etwas... Ein Gefühl von Verbundenheit und tiefem Vertrauen war zwischen mir und Elfe entstanden und beruhigte meine Nerven. Wir waren zu zweit. Wir würden das schaffen.


P.S. Entschuldigung, dass das Kapitel so spät kommt. Leider stimmt bei meinem Laptop etwas nicht.

Verlorene der Nacht - 1. Band der Tagwandler ReiheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt