Die Prüfung - 2

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Als alle Stühle besetzt waren, stieg ein gespanntes Schweigen auf. Bereits zuvor war es still gewesen. Niemand hatte gesprochen oder ein lautes Geräusch gemacht, doch das sanfte Rascheln vom Stoff der Kleidung, das leichte Vibrieren von Holz, wenn jemand sein Gewicht auf dem Stuhl verlagerte oder auch das sanfte regelmäßige Atmen der Menschen hatten keine vollkommene Stille hinterlassen. Nun schien auf einmal eine Leere alle Geräusche verschluckt zu haben. Plötzlich durchbrachen feste Schritte die gespenstische Ruhe. Ich blickte auf und sah einen Mann, der nach vorne zum Podest lief. Seine Haltung war selbstsicher, ein bisschen überheblich. Seine etwas längeren hellbraunen Haare waren streng zurückgekämmt. Er trug einen Anzug mit schwarzer Krawatte. Sein Jackett war ordentlich zugeknöpften und saß ebenso perfekt wie seine Brille, deren viereckige Gläser und schwarzes dünnes Metallgestänge von unzerstörbarer Präzession verkündeten. Sein Aussehen glich dem eines hohen Managers oder eines Firmenleiters, wären da nicht seine Augen gewesen. Wenn die Blicke der anderen Menschen in diesem Raum aus Eis und tödlichen Funken bestanden, dann entstammte dieser Blick, mit dem er uns Sitzende musterte, aus einer vollkommen anderen Galaxie. Aus einem Paralleluniversum in dem es keine niedrigste Temperatur gab, sondern die Skala endlos in die Tiefe schoss. Doch statt tödlichen Blicken, sendeten seine Augen eine Leere zu uns aus, die genauso beängstigend war wie die Stille, die er gerade mit seinen Schritten gebrochen hatte. Er machte uns mit diesem Blick sofort klar, dass wir für ihn nichts waren, jedenfalls nichts, das menschlich war. Wir waren so etwas wie materielle Rohgegenstände für ihn, mit denen man zuerst noch lange arbeiten musste, bis sie etwas wert waren.
Er erreichte das Podest und stieg hinauf. Seine Stimme brauchte kein Mikrofon oder etwas in der Art, um sich gut hörbar auszudrücken, denn der ganze Raum schwieg bereits und hielt gespannt den Atem an. Man hätte in dieser Stille hören können wie eine Nadel zu Boden fällt und so war es nicht verwunderlich, dass seine klare und bestimmende Stimme in meinen Ohren sich viel zu laut anhörte, als er in tadellosen Englisch sprach: „Willkommen. Jeder der in diesem Raum sitzen darf, wurde dazu ausgewählt an den heutigen Prüfungen teilnehmen zu dürfen. Nur hundert der zweihundert Kandidaten werden ihr heutiges Ziel erreichen. Die Bestehenden werden danach die harte Ausbildung beginnen, werden die anderen weniger wichtige Aufgaben zugewiesen bekommen. Wer sich weigert zu kooperieren, wird sein Leben aushauchen."
Viele Leute um mich herum setzenden ein wildes, entschlossenes Grinsen auf. Für mich klang das ganze jedoch nicht wie eine Motivationsrede. Mein Herz schlug mir mittlerweile bis zum Hals und mein Puls raste auf himmlischen Höhen dahin. Was war wenn ich den heutigen Tag nicht überlebte? Worauf in Teufelsnamen freuten sie die anderen? Hatte der Mann eben etwa nur einen Witz gemacht, den ich nicht verstanden hatte? Oder war es der reine Adrenalinkick, der sie breit Grinsen lies und eindeutig nicht mein Fall war?
„Ich erkläre euch nun die Grundprinzipien des Tests. Ihr werdet zwei Arten von Prüfern begegnen, einmal Prüfern mit einem blauen Band um den Arm und einmal mit einem roten. Das was die Prüfer mit den blauen Band sagen, ist für Euch Pflicht. Das was die Prüfer mit dem roten Band sagen, darf nach eigenem Ermessen ausgeführt, aber auch ignoriert werden. Ich dulde während der Prüfung keinerlei Gewalt gegenüber anderen Teilnehmern. Falls es doch zu Ausschreitungen kommen sollte, werden die Betroffenen eliminiert. Außerdem dulde ich bei auszuführenden Befehlen keine Widerworte und nur stillen Gehorsam. Ein Widerwort hat natürlich ebenfalls den Tod zur Folge."
Mit diesen Worten wollte er schon von der Bühne gehen, da stand hinter mir jemand auf und rief so laut, dass es jeder mitbekam: „Und wieso sollten wir das tun, was du verlangst? Sieh uns an, wir sind die gefährlichsten Menschen auf diesem Planeten und du willst uns mit den paar Wachen an der Wand zum Schweigen bringen? Wir...."
Urplötzlich ertönte ein Schuss. Der aufsässige Mann schwankte nach hinten. Verwundert blickte er hinab auf seine Brust, wo sich rasch ein roter Fleck auf dem weißen Oberteil ausbreitete. Er stolperte zurück, griff sich an die Brust und versuchte mit seinen Händen den Blutstrom zu stoppen, doch es gelang ihm nicht. Dicke rote Tropfen rannen durch seine Finger und tropften auf den Boden hinab. Er verdreht die Augen, röchelte: „Wie ist das möglich?" und fiel dann auf die Knie. Keiner half ihm, als er kurz darauf mit weit aufgerissenen Augen endgültig nach vorne umkippte.
Eine Totenstille hatte den Saal ergriffen. Ich blickte mich um. Wer hatte geschossen? Die Wachen schienen sich keinen Zentimeter bewegt zu haben. Endlich sah ich nach vorne. Der Mann, der vom Aussehen so sehr einen Manager ähnelte, spielte locker mit einer Pistole. Mir wurde schlecht. Ich hatte das Gefühl, als müsste ich mich gleich vor allen Anwesenden übergeben. Alles um mich herum fing an sich zu drehen, doch ich wusste, wenn ich mich jetzt meiner Angst hingab, würde ich ebenso schnell sterben wie dieser Mann. Aus diesem Grund schluckte ich schwer und versuchte meinen zitternden Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.
Der Mann zu meiner rechten Seite lächelte zufrieden. „Das war ein guter Schuss. Ich habe ihn nicht einmal nach der Waffe greifen sehen", meinte er auf Englisch mit einem Augenzwinkern zu mir. Ich nickte und versuchte mich ebenfalls in einem Lächeln. Das Ergebnis war wohl eine schreckliche Grimasse, denn mein Nachbar fügte hinzu: „Ah, scheint so, als hast du ebenfalls das Ziehen der Waffe nicht früh genug gemerkt. Ich hätte auch nicht ausweichen können. Wenigstens wissen wir jetzt, was auf uns zukommt."
Ich nickte und versuchte gelassen und höflich zu wirken. Bloß nicht aufzufallen war zu meinem Motto geworden. Vielleicht, aber auch nur wirklich vielleicht, konnte ich so meine Lebenszeit um ein paar Sekunden verlängern.

Verlorene der Nacht - 1. Band der Tagwandler ReiheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt