Treueeid - 2

1.5K 104 2
                                    

Tränen liefen mir in Strömen über die Wange. Mehrmals hatte ich versucht aufzustehen, doch immer schoss ein scharfer Schmerz durch meinen Körper und warf mich nieder. Die Stellen, wo ich von den Typen berührt worden war, schienen sich zu ernsten Verletzungen entwickelt zu haben. Das durfte jedoch eigentlich nicht sein. Ich hatte allerdings auch noch nie etwas Derartiges erlebt. Narbengesicht stand immer noch reglos an der Wand. Ich blickte zu ihm auf. Würde er noch einmal das tun was ich sage? Sicherlich nur, wenn ich mich wieder arrogant gab. Wieso war er eigentlich überhaupt noch hier? Mittlerweile müsste ihm doch klar sein, dass ich in meinen jetzigen Zustand kaum etwas gegen ihn ausrichten konnte. Ich hatte mein Handy herausgeholt, doch der Akku war wie zu erwarten leer gewesen. Trotzdem stand Narbengesicht immer noch bei mir. Ob das wohl an seinem schlechten Gewissen lag?
Ich brauchte Hilfe. Ich konnte nicht länger so tun, als hätte ich alles unter Kontrolle und Jane würde sich wieder fangen. Es würde wahrscheinlich nie wieder ohne fremde Hilfe gut werden, doch wer sollte uns helfen? Wer sollte uns in einer so verzwackten Situation zur Seite stehen? Ich war alleine und auf mich angewiesen. Meine Aussichten auf Unterstützung waren weit schlechter als nur grau. Ich würde jede Chance ergreifen, jede einzelne um Jane wieder zur Vernunft zu bekommen. Doch gab es überhaupt noch eine Chance?
Das lag alles nur an diesem verdammten Alex! Wie hätte sie sonst in eine solche Situation reingeraten können? Wütend wischte ich mir die Tränen weg. Der Scheißkerl sollte dafür bezahlen! Ich blickte zu Narbengesicht hoch. Wahrscheinlich hätte ich das schon längst machen sollen. Mit rauer, kratziger Stimme flüsterte ich ihm zu: „Hol Hilfe!"
Sofort drehte er sich auf den Absatz um und verließ die Gasse. Ich blieb alleine zurück. Weitere Tränen strömten nun über mein Gesicht. Erneut versuchte ich mich aufzusetzen, doch ich scheiterte. Verzweifelt hämmerte ich mit der Faust auf den Boden ein, bis meine Knöchel aufgeplatzt waren und ein dumpfes Pochen durch meine Hand zuckte.
„Bleib ruhig!", versuchte ich mir selbst zu befehlen. Ich atmete tief ein und wieder aus. Drei, sechs, neun Minuten wiederholte ich den Rhythmus, bis ich endlich wieder etwas sehen konnte, ohne dass ich sofort vor Verzweiflung aufschrie.

„Na wieder gefangen?", eine lässige Stimme erklang neben mir.
Ich wandte mein Gesicht dem Sprecher zu, während ich meinem Körper befahl aufzustehen. Dieses Mal ignorierte ich die Schmerzen, die dabei durch meinen gesamten Leib jagten. Die Muskeln waren bloß Werkzeuge, die mir zu gehorchen hatten. Sie hatten kein Recht sich in einer solchen Lage zu beschweren. Für einen kurzen Augenblick verschleierte sich meine Sicht, dann wurde sie langsam wieder klar. Damian stand nicht weit von mir. Lässig lehnte er sich an die Mauer und beobachtete mich dabei neugierig.
„Wie lange stehst du schon da?", fragte ich mit heißerer, verbitterter Stimme.
„Lang genug um zu wissen, dass du in Schwierigkeiten steckst", antwortete er mit einem schiefen Grinsen, während er mich weiterhin neugierig beobachtete, als wollte er herausfinden wie lange ich noch aufrecht stehen konnte.
Verärgert wandte ich mich ab und blickte ins Gesicht von Narbengesicht. „Das nennst du Hilfe?", spottete ich. „Das ist wohl eher eine Nervensäge." Narbengesicht fing an zu zittern, als versuchte sein Gehirn sich gegen die Muskeln aufzulehnen. Seine Beine knickten unter ihm ein. Er fiel zu Boden und flüsterte kniend mit einer gefühlslosen, monotonen Stimme: „Verzeiht mir."
„Du solltest nicht auf die Schwachen losgehen.", mahnte mich Damian höhnisch.
„Ach ja!?", giftete ich ihn an.
„Ja. Auch wenn du ihn schikanieren kannst, wirst du diesen Trick wohl kaum gegen jemanden wie mich verwenden können."
„Wollen wir wetten?", fragte ich höhnisch, obwohl ich genau wusste, dass er recht hatte. In diesem Moment war mir das jedoch egal. Lieber wäre ich mit dem Teufel einen Bund eingegangen, als das ich zugegeben hätte, dass ich ihm vollkommen unterlegen war. Doch wen wollte ich etwas vor machen? In meinem jetzigen Zustand hätte selbst ein Blinder erkannt, dass ich keine Chance hatte.
Auf einmal stand Damian direkt vor mir. „Wette angenommen.", flüsterte er mir mit raubtierhafter Stimme in mein Ohr. Dann packte er mich auch schon am Hals und drückte mich gegen die Mauer. „Gibst du auf?", fragte er belustigt.
Die Wut, die in mir kochte, schien überzuschäumen und sich mit voller Wucht auf ihn zu stürzen, obwohl er nicht der eigentliche Verursacher von ihr war. Ich spuckte ihm ins Gesicht und traf seine Wange.
Er wischte seine Wange in aller Seelenruhe mit dem rechten Ärmle ab, während er mich immer noch mit der linken Hand am Hals festhielt und gegen die Wand drückte.
„Ich sehe, wir spielen auf diesem Niveau.", flüsterte er mir mit einem breit amüsierten Grinsen zu und hob mich hoch. Ich konnte nicht schreien. Seine Hand würgte mir vollkommen die Luft ab. Tränen stiegen mir in die Augen und liefen über meine Wange. Ich versuchte verzweifelt nach Luft zu schnappen, doch es gelang mir nicht. Mit beiden Händen zerrte ich an seiner Hand, die mir langsam, aber sicher das Leben ausdrückte, wie große Finger die Flamme einer kleinen Kerze löschen konnten. Als es nichts zu bringen schien, versuchte ich seine Augen auszukratzen. Keine einzige Verletzung, die ich ihm zufügte, schien auf seinem schönen Gesicht bleiben zu wollen. Es war als würde ihn eine höhere Macht beschützen, denn den Augen kam ich nie zu nahe und die langen blutigen Striemen auf Wange und Kinn heilten innerhalb Sekundenbruchteile. Wie konnte das sein? Halluzinierte ich von dem Sauerstoffmangel?
„Hast du dich wieder beruhigt?", fragte Damian mit einem wölfischen Grinsen. Wie hatte ich ihn nur jemals für nett halten können!? Der Kuss hatte doch eindeutig gezeigt, was für ein Arschloch er war und trotzdem hatte ich seiner miesen Maskerade von Nettigkeit geglaubt. Verzweifelt versuchte ich nach Luft zu schnappen, doch immer noch konnte ich nicht atmen. Alles um mich herum begann sich zu drehen. Auf einmal stand Damians Gesicht auf den Kopf. Am Rande meines Sichtfeldes begann es Dunkel zu wabern. Verzweifelt versuchte ich gegen die Finsternis anzukämpfen, doch sie schien übermächtig zu sein.
Plötzlich ließ er mich los. Ich fiel zu Boden, zu kraftlos um aufzustehen. Verzweifelt schnappte ich nach Luft. Einzig und allein darauf bedacht, meine Lungen mit dem rettenden Sauerstoff zu füllen.
„Eigentlich wollte ich das nicht tun. Du hast mir nur leider keine andere Wahl gelassen. Verstehst du nun, dass du keine Chance gegen mich hast? Weißt du, was du angestellt hast?", fragte Damian vollkommen ruhig, während ich die Zähne fletschte und mir wütenden die Tränen aus den Augen wischte. „Was ich angestellt habe?! Ich habe Narbengesicht einfach mit der Polizei gedroht! Mehr nicht!"
Damian lachte schallend auf, als hätte ich ihm einen Witz erzählt, den nur er verstand. Er strich mir sanft über den Kopf, als sei ich ein Schmusetier und erklärte: „Ich werde dir einen Rat geben, auch wenn das normalerweise nicht meine Art ist. Erwähne diese Macht, die du gegenüber dieser Missgeburt hattest, am besten niemals."
Ich fletschte die Zähne und er lächelte beinahe schon führsorglich, während er mir erneut über den Kopf strich und mit einer hochgezogenen Augenbraue fortfuhr: „Außerdem solltest du am besten lernen, dich niemals mit Stärkeren anzulegen. Es ist ein Wunder, dass du heute Nacht überlebt hast."
Mit seinem Zeigefinger fuhr er meine Schulter herab und berührte dann für den winzigen Bruchteil einer Sekunde, die schmerzende Stelle auf der einen Seite, dann die auf der anderen. „Das sieht nicht gerade gut aus. Möchtest du, dass man dir Schmerzen zufügt oder bist du wirklich einfach nur so unvorsichtig?"
Wütend zischte ich ihn an: „Das kann dir doch egal sein. Weißt du überhaupt, was echte Freundschaft ist!?"
Für einen Moment blitzte etwas wie eine Erinnerung in Damians Augen auf, dann verwandelte es sich in Zorn. „Du redest von echter Freundschaft?!", fragte er verächtlich und vollkommen herablassend, als sei ich irgendein Insekt, dass gewagt hatte ihn zu belehren. „Was weißt du schon? Ein Mensch wie du, der jeden für Geld, Macht und Ruhm verkaufen würde!? Sprich nicht von wahrer Freundschaft!"
Erschrocken fuhr ich zusammen. Damians Stimme glich Feuerpeitschen, die auf meine Haut einschlugen. Doch ich konnte nicht ruhig bleiben. Was er mir vorwarf war ungerecht! Jane war meine Freundin! Sie war es seit einer halben Ewigkeit! Ich dachte an die abweisende Art zurück, mit der sie mir heute Nacht begegnet war, doch auch an die Trauer und Schwäche in ihrem Blick. Auf einmal durchzuckte mich die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Jane hatte mich nur zurückgestoßen, um mich zu beschützen! Sie war in irgendetwas verwickelt, dass so schlimm war, dass sie lieber unsere Freundschaft aufgab, als mich in Lebensgefahr zu bringen. Doch ich war kein kleines Kind! Man musste mich nicht beschützen! Ich war eine erwachsene Frau! Verächtlich erwiderte ich Damians Blick. Er verstand rein gar nichts! Jane war für mich wie eine Schwester, die ich niemals gehabt hatte. Jane konnte ich jedes Geheimnis anvertrauen. Jane würde mich niemals verraten! Und ich würde sie nicht in Stich lassen! Ich würde sie beschützen, wie sie mich beschützen wollte! Mit angeekelter Stimme warf ich Damian die Worte: „So etwas kannst du erst recht nicht verstehen, du unmenschlicher Heuchler!", vor die Füße.
Damian wirkte für eine winzige Sekunde wirklich verletzt. Nicht weil ich ihn beleidigt hatte, nein dafür war seine eigene Arroganz viel zu groß, sondern weil ich es ihm nicht zutraute eine Freundschaft zu führen, die auf vollkommenen Vertrauen beruhte.
Er fing sich jedoch schnell wieder. Ein siegessicheres Lächeln spielte um seine Lippen und er fragte: „Was würdest du tun, um sie zu retten?"
Ohne auch nur einen Gedanken zu verschwenden, schluckte ich den Köder und erklärte entschlossen: „Alles"
„So sei es", antwortete Damian so ruhig und selbstsicher wie ein Priester beim Amen. „Dann sollst du ab heute mir dienen und niemanden anderen. Du wirst das tun, was ich dir sage. Du wirst die Ausbildung durchführen, die ich für richtig halte und du wirst niemanden anderen deine Treue schwören. Dann, aber auch nur dann, wenn du mir deine grenzenlose Loyalität versprichst, werde ich dir helfen."
Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, was diese Worte für eine Konsequenz haben konnten, stimmte ich wütend zu: „In Ordnung."
Im gleichen Moment wurde ich erneut gegen die Wand gepresst. Ich spürte einen stechenden Schmerz an meinem Hals. Verzweifelt versuchte ich mich unter den straken Händen herauszuwinden, doch ich wurde mit eiserner Stärke gegen die Mauer gepresst. Dann hörte ich ein tiefes Schlucken. Es klang, als würde ein wildes Raubtier seinen unstillbaren Durst mit großen Zügen Wasser löschen. Doch hier gab es kein Wasser.
Ich stöhnte auf und klammerte mich an Damians Schulter. Ich konnte spüren wie ich immer schwächer wurde. Dann war der Spuck vorbei. Ein letztes Mal leckte eine raue Zunge über meinen Hals und schließlich wurde ich losgelassen. Kraftlos sank ich zu Boden. Schwach blickte ich auf und sah ein bildhübsches Gesicht. Im Hintergrund funkelten die Sterne und die langen schwarzen Haare spielten mit dem Wind fangen. Der Mund jedoch war grausam. Seine perfekten Lippen waren beschmiert mit dickem rotem Blut. Die Zunge fuhr heraus und leckte langsam und genüsslich die restliche dunkle Flüssigkeit weg. Für einen winzigen Moment konnte ich scharfe Reiszähne aufblitzen sehen. „Damit ist dein Treueid an mich geschlossen. Du bist nun meine Dienerin."


Aus den Chroniken der Tagwandler - Ein Bericht eines späteren Ratsmitglieds:

Ich habe die neue Art der Ernährung meinem Lehnsherrn präsentiert. Er war auf jeden Fall interessiert, doch ich denke nicht, dass dies mit der Möglichkeit einer dauerhaften Versorgung unseres Volkes ohne Toten zusammenhängt. Wahrscheinlich hofft er eher auf andere Vorteile, die diese Ernährung mit sich bringen könnte. Die Wahrscheinlichkeit dafür scheint gar nicht so gering. Durch eine genauere Forschung wäre es vielleicht sogar möglich eine der Prägung des Menschen, wie sie in alten Legenden geschildert wird, auf die Schliche zu kommen. Damit wäre eine menschliche Dienerschaft, die nicht mehr dauerhaft kontrolliert werden müsste, möglich. Doch im Moment sind die Beweggründe meines Lehnsherrn nicht von Bedeutung, denn ich habe die Erlaubnis bekommen weitere Tests durchzuführen. Auch wird man mir die nötigen Mittel und die Testpersonen zur Verfügung stellen.

Verlorene der Nacht - 1. Band der Tagwandler ReiheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt