Treueeid - 1

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Nun war ich wirklich erstaunt. Wieso sagte er einfach „Ja"? Das war die letzte Antwort, die ich erwartet hatte. Selbst wenn er Jane wirklich gesehen hatte, wieso sollte er dann ehrlich auf diese Frage antworten? Hatte er wirklich eine so große Angst vor der Polizei?
„Weißt du, wo sie jetzt ist?", fragte ich weiter nach und versuchte dabei so gut ich konnte, die abfälligen, überheblichen Gesten von Elizabeth aus „Maria Stuart" nachzuahmen. Schiller hatte viel Arbeitszeit investiert, um ein perfekte Vorstellung abliefern zu können. Wenn ich seinen Anweisungen folgte, konnte ich so tun, als sei es für mich das natürlichste auf der Welt anderen Befehlen zu erteilen. Jedenfalls hoffte ich das. Meine Performance als Elizabeth war nicht besonders überzeugend, besonders weil ich mit dem Text etwas variieren musste. Immerhin war meine Stimme nicht mehr so piepsig wie die Schreckenslaute einer verängstigten Fledermaus.
„Ja." Ein Wort, emotionslos und knapp, kam aus Narbengesichts Mund hervor. Meine Frage war beantwortet, aber viel weiter brachte mich diese Information auch nicht.
Musste ich ihm etwa jede Information einzeln entlocken? „Führ mich zu ihr", befahl ich so überheblich wie ich konnte. Meine Nase streckte ich dabei in den dunklen Himmel, während ein lässiges Wedeln aus dem Handgelenk meine Überheblichkeit unterstrich.
Narbengesicht verbeugte sich doch tatsächlich vor mir und ging ohne zurückzublicken vorwärts. Ich folgte ihm. Doch war das wirklich die beste Idee? Was war wenn er mich in eine Falle führte? Narbengesichts Schritte waren wie vorprogrammiert. Wieder fiel mir auf, dass er eher einem Roboter glich als einem Menschen. Fast hätte man meinen können er besäße keine Persönlichkeit, kein eigenes Sein. So etwas konnte jedoch nicht möglich sein! Zuvor hatte er einen quicklebendigen Eindruck mit einem sehr ausgeprägten Charakter gemacht. Seine Züge hatten mir überhaupt nicht gefallen, aber er war kein Roboter gewesen. Ich verscheuchte meine Gedanken in die hinterste Ecke meines Gehirns. Diese Umstände waren nun egal. Ich musste Jane finden! Sie war irgendwo alleine unterwegs, mitten in der Nacht und scheinbar furchtbar krank, dass konnte doch nur schief gehen.
Narbengesicht führte mich in eine andere Seitengasse. Auch hier war kein einziger Mensch zu sehen. Nicht eine Straßenlaterne schien. Allein der Mond, der immer wieder hinter den Wolken verschwand, warf ein gespenstisch blasses Licht auf die dreckige Umgebung. Narbengesichts sicheren monotonen Schritten nach schien er sich auszukennen. Er brauchte scheinbar nicht einmal etwas zu sehen, um genau zu wissen, wohin er musste. Ich folgte ihm vorsichtig, immer darauf bedacht bloß nicht zu stolpern.

Dann hielt er an. Er wandte sich zur Seite. In der Wand rechts von mir, erleuchtet vom fallen Mondlicht, war eine sehr schmale Tür zu erkennen. Sie war kaum hoch genug für einen ausgewachsenen Menschen. Narbengesicht öffnete diese Tür, doch ich hielt ihn an der Schulter zurück. Ein verdammt mieses Gefühl füllte meinen Brustkorb und zwang mich flach zu atmen. Ich sollte nicht einfach so durch diese Türe gehen. Es war mitten in der Nacht, die Tür vor mir führte in ein unbekanntes Haus, deren Besitzer ich nicht kannte. Doch wer wohnte freiwillig in einer dunklen Seitengasse wie dieser? Entweder er hatte wenig Geld oder er wollte lieber unter sich bleiben. Mal ganz davon abgesehen war das hier Hausfriedensbruch. Also gab ich Narbengesicht einen neuen Befehl, wie eine verzogene Prinzessin streckte ich die Hand aus und ordnete mit gelangweilt arroganter Stimme an: „Hol Jane hier herauf."
Wieder verbeugte sich Narbengesicht und ließ mich auf der Straße allein zurück. Ich lehnte mich an die kalte Wand und wartete. Nervös biss ich auf meiner Unterlippe herum und beobachtete ängstlich meine Umgebung, doch es war zu dunkel um etwas zu erkennen. In mir stieg das beklommene Gefühl beobachtet zu werden auf und ich musste heftig schlucken. Meine Hände waren nass und mein Puls hatte sich mittlerweile verdoppelt. Blut und Adrenalin wurden rasend schnell durch meinen Körper gepumpt. Hoffentlich würde ich so eine verdammte Nacht nie wieder in meinen gesamten Leben erleben. Ich wünschte mir sehnlichst jetzt in meinem Bett unter der warmen Decke zu liegen und mich unter dieser vor all den Gefahren, die hier draußen lauerten, verstecken zu können.
Ein schwaches Lachen drang an meine Ohren. Mehrere Männerstimmen, die sich rau übereinanderlegten, kamen aus dem Haus heraus, in dem Narbengesicht verschwunden war. Vielleicht hätte ich extra erwähnen sollen, dass er nur Jane mit hochbringen sollte, doch jetzt war es dafür zu spät. Es war eh fraglich, ob er es mit seiner Roboterart geschafft hätte, andere Menschen vom Bleiben zu überzeugen.
„Hey! Lach doch mit", hörte ich nun ganz klar und deutlich.
„Du bist doch sonst auch nicht wie ein Roboter. Wir haben Spaß, genug Geld und eine lange Nacht vor uns und das Mädchen hier sieht auch nicht mal so schlecht aus."
Keine Antwort von Narbengesicht. Stattdessen ging die Tür auf und drei Männer traten ins Freie. Einer davon war Narbengesicht. Hinter ihnen kam eine kleinere zierliche Gestalt zum Vorschein. In dem Licht, dass mit einem mal aus der offenen Türe hervorquoll, erkannte ich die Figur von Jane gekleidet in ein schwarzes Partykleid. Ich vergaß alle Vorsicht. Bevor ich noch einen weiteren logischen Gedanken vollenden konnte, rannte ich auf Jane zu.
„Jane! Oh mein Gott, Jane!", rief ich dabei voll Erleichterung. Jane wandte mir den Kopf zu und ich blieb stehen. Ihre Augen blickten glasig in die Finsternis. Sie starrte mich ausdruckslos an. Es war nicht so, als würde sie mich nicht bemerken. Die Tatsache, dass ich hier war, schien ihr nur vollkommen egal zu sein.
„Jane!", rief ich noch einmal laut und zog sie in eine Umarmung. Ihr ganzer Körper zitterte leicht. Es war ein schwaches Vibrieren, das von Unsicherheit, Angst und vielleicht auch von Erleichterung erzählte. Doch es blieb nicht lange. Innerhalb weniger Sekunden verspannte sie sich. Ich drehte mich um und stellte mich beschützend vor Jane, obwohl ich mich nicht wirklich stark fühlte. Die zwei Männer, die Narbengesicht nach oben begleitet hatten, waren zu uns getreten. In der Dunkelheit konnte ich ihre Gesichter nicht sehen, doch allein ihre großen Gestalten machten mir Angst.
„Was willst du hier?" Die Stimme war tief und triefte vor Hohn und Überheblichkeit.
„Ich komme um Jane zu holen." Meine Stimme hingegen kam mir selbst in meinen Ohren zittrig, leise und viel zu hoch vor.
Beide Männer lachten. Nur Narbengesicht stand etwas hinter dem Geschehen und tat nichts. „Willst du etwa auch Maus?", fragte einer der Männer mit einem grausamen Unterton. Er kam ein Stückchen auf mich zu und ich wich zurück bis ich gegen Janes Körper stieß.
„Kommt nicht näher!", wieder war es die piepsige Stimme, die aus meinen Mund hervorkam.
„Ach ja?" Nun wirkte auch der andere Mann interessiert. Beide kamen immer näher, doch ich konnte nicht zurückweichen. Ich musste irgendwie Jane beschützen! Doch war es nicht eigentlich ich die Hilfe brauchte? Ich biss mir auf die Unterlippe um zu verhindern, dass ein ängstliches Wimmern über meine Lippen kam. Meine Knie zitterten. Die beiden Männer waren kurz vor mir.
Der eine von ihnen schnaufte verächtlich. „Werde erst einmal erwachsen! Ich kann deinen Angstschweiß bis hierher riechen." Er streckte einen Finger aus und stupste ihn gegen meine Schulter. Es fühlte sich an, als hätte mich an dieser Stelle ein ganzer Güterzug gerammt. Ich taumelte zurück, stieß gegen Janes Körper und fing mich dann wieder. Wie war das möglich?
„Du stehst noch?", fragte mich der andere belustigt. „Alle Achtung und du hast nicht einmal geschrien. Aber wetten du hältst es kein zweites Mal aus? Um mich zu provozieren stupste er mit dem Zeigefinger genau auf dieselbe Stelle nur auf der anderen Seite meines Oberkörpers. Diesmal gaben meine Knie nach. Es war als hätte mich eine Kugel an dieser Stelle durchbohrt und zu Boden geworfen. Der Finger war jedoch viel zu langsam gewesen, um durch meine Haut dringen zu können. Einzig der stechende Schmerz, der mich in die Knie zwang, erzählte von der Wunde. Ich wimmerte nun ganz leise vor ihren Füßen wie kleines Getier. Um etwas zu sagen, war ich zu verängstigt.
Jane trat hinter mir hervor. Sie berührte den einen Typen leicht am Arm und streichelte ihn über den Oberkörper. Dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte mit rauchiger, verführerischer Stimme: „Komm gehen wir wieder nach unten. Sie gehört nicht mehr zu meinem Leben. Das wisst ihr. Sie hat es nur noch nicht verstanden. Wir können unten wieder so viel Spaß haben und so tun, als hätte es diese Unterbrechung nie gegeben."
Dann beugte sie sich zu mir herunter. Streichelte mir über den Kopf wie einem Kleinkind und flüsterte mit belegter Stimme: „Es ist zu spät für mich. Ich kann nicht wieder zu dir ins Licht zurückgehen. Die Wohnung gehört nun dir alleine. Du solltest mich vergessen, denn ich habe mich der Dunkelheit zugewandt." Dann lachte sie höhnisch, als seien ihre Worte mit der versteckten Trauer, nur reiner Schein gewesen und die beiden Männer fielen mit ein. Die drei gingen runter und ich blieb kniend auf den Boden zurück. An der Wand stand immer noch Narbengesicht wie ein lebloser Roboter, dem der Strom ausgegangen war.

Verlorene der Nacht - 1. Band der Tagwandler ReiheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt