Kurze Zeit später holte man mich ab. Ob es derselbe Typ war wie beim letzten Mal oder ob er ihm nur auf das Haar glich, wusste ich nicht, denn er war zumindest genauso gesprächig. Heute wurde ich in einen großen Hangar geführt. Es standen schon weitere sechs Leute dort, wobei von den sechs fünf Stück dasselbe Outfit wie ich trugen und nur einer eine Militärkluft anhatte. Diese bestand aus einer kugelsicheren Weste, einer gefleckten Regenjacke und einer grün braunen Militärhose. Das einzige, das dieses Tarnmuster nicht wiederspiegelte, waren die rabenschwarzen Schuhe und das komische rote Mützchen, das er auf seinen Kopf trug. Das rote Ding war ziemlich platt und auf der einen Seite länger als auf der anderen. In der Mitte war eine Art goldene Sonne gestickt, um die sieben silberne Sterne befestigt waren.
Ich stellte mich zu den anderen fünf Kandidaten, die alle ebenfalls eine zehn auf ihren T-Shirts hatten. Vielleicht war das ja unsere Gruppennummer.
Der Mann vor uns fing an auf Englisch zu sprechen: „Gut, nachdem wir nun alle hier sind beginnen wir. Ich bin euer Sergeant und so redet ihr mich auch an. Ihr sprecht nur, wenn man euch dazu auffordert! Ihr sagt nur das, was man euch gefragt hat! Habt ihr das verstanden?"
Alle anderen fünf Kandidaten sprachen wie aus einem Mund: „Jawohl, Sergeant!" Ich selbst hatte die Antwort prompt verpennt und hätte wahrscheinlich sowieso auf Deutsch geantwortet. Anderseits war es sehr logisch sich von Anfang an auf Englisch einzustellen. Wahrscheinlich kamen wir hier alle aus unterschiedlichen Ländern und dies war wohl die Sprache, die die meisten Menschen irgendwann gelernt hatten. Gerne hätte ich den Blick von unseren Sergeant abgewendete, um die anderen genauer betrachten zu können, doch seine braunen Augen durchbohrten mich förmlich.
„Wenn ich euch etwas frage, dass ihr mit ja oder nein beantworten sollt, dann antwortet ihr jedes Mal mit „Jawohl Sergeant!" oder „Nein Sergeant!". Verstanden!?", brüllte er durch die Halle, als wolle er jede tote Seele aufwecken und blickte dabei nur mich an.
„Jawohl Sergeant!", antworteten wir im Chor. Diesmal hatte ich den Zeitpunkt nicht verpasst.
„Gut. Ich werde in nächster Zeit euer Training begleiten. Ihr werdet meinen Befehlen gehorchen und das tun was ich sage. Verstanden!?"
„Jawohl Sergeant!"
„Gut. Da ihr es noch nicht verdient einen vollen Namen zu tragen, werdet ihr jetzt einzeln hervortreten und euren Spitznamen verkünden. Euren zuvor getragenen Namen habt ihr mit diesem Moment abgelegt. Der Spitzname ist endgültig, also überlegt euch was anständiges, dass ihr bis zu eurem Tod tragen könnt! Wir beginnen der Reihe nach. Verstanden!?"
„Jawohl Sergeant!", riefen wieder alle im Chor.
Gott sei Dank schaute der Ausbilder nun das andere Schlangenende an und nicht mehr mich, denn um ehrlich zu sein bekam ich gerade Panik. Ich hatte den Spitznamen im Chaos von gestern vollkommen vergessen! Was sollte ich nun tun?! Ich würde ihn nie wieder ändern können!
Der erste in der Reihe, ein sehr großer muskelbepackter Mann mit einer dunklen Hautfarbe trat hervor. Sein schwarzes gekräuseltes Haar war weniger als ein Zentimeter lang und er sprach mit entschlossener tiefer Stimme: „Ich bin Wolf.""
„Aha, mal wieder einen Wolf. Denn haben wir jedes Jahr dabei. Nächster."
Ein noch größerer Typ, diesmal mit sehr heller Haut und keinerlei Haar trat hervor. Er war einfach nur gewaltig und seine Arme schienen vor Muskeln fast zu platzen. „Ich bin Bär", verkündete er mit ebenso tiefe Stimme. In ihre war nicht diese stahlharte Entschlossenheit, sondern eher eine Gelassenheit und selbstsichere Ruhe.
„Das passt zu deiner Körpergröße auf jeden Fall. Du wirkst glatt wie ein Bär, besonders mit deinem Unterarmfell, das ich gestern zur Genüge bestaunen durfte."
Ich hatte immer noch keine Ahnung welchen Namen ich mir aussuchen sollte, doch schon trat die nächste Person vor. Dieser Mann war im Vergleich zu den beiden davor klein. Auf seiner gesamten Haut waren Sommersprossen verteilt und er hatte ein verschlagenes Funkeln in seinen giftgrünen Augen. „Ich bin Schlange", meinte er mit einem breiten Grinsen, bei dem mir ein Schauer über den Rücken lief.
Mit eleganten Schritten folgte die nächste Person. Selbst mir wären fast die Augen aus den Kopf gefallen bei so viel Schönheit und Sexappeal. Ich wusste leider nur zu gut, dass ich mich eher zu Männern oder besser gesagt einem gewissen Vampiroberhaupt hingezogen fühlte, doch sie schien das Ganze auf die Probe zu stellen. Die wunderschöne Frau hatte langes wallendes kastanienbraunes Haar, funkelnde meeresblaue Augen und makellose Haut. Dazu hatte sie einen Körperbau, der mich beinahe grün vor Neid werden ließ. Sie hatte sehr große Kurven an den richtigen Stellen und doch wirkte ihr Körper schlank und durchtrainiert. Es war als wär sie kein Mensch, sondern Aphrodite oder zumindest Helena persönlich. „Ich bin Elfe", sprach sie mit einer süßen melodischen Stimme, die vollkommene Weiblichkeit ausstrahlte.
Ich sah wie der Sergeant für einen Moment schluckte und beinahe seine Kommentare vergaß, doch er fing sich erstaunlich schnell wieder. „Den Namen kann man sich bei deinem Körperbau auch wirklich geben. Ich hoffe für dich jedoch, dass du auch genauso flink und wendig bist wie eine Elfe. Sonst haben wir bald nur noch eine Sauerei von dir."
Ich schluckte. Vor mir war nur noch eine Person und ich hatte nicht den leichtesten Hauch einer Ahnung welchen Namen ich mir geben sollte.
Der Typ neben mir trat vor. Er hatte kurze stachelige blaue Haare, Sommersprossen um die Nase und braune Augen, die frech in die Gegend schauten. Er war wohl genauso groß wie Wolf, doch sein Körperbau war eher schlaksig und die Muskeln von Bär konnte man bei ihm vergeblich suchen. „Ich bin Einstein", stellte er sich mit einem witzigen breiten Grinsen vor und zwinkerte mir dabei verschwörerisch zu.
„Einstein, ja?", fragte der Sergeant nach. „Sicher, dass du da nicht etwas zu hoch greifst?"
„Nein, Sergeant", erwiderte Einstein in perfekte nachgespielter Sergeant Stimme.
„Es wäre wohl eh zu spät, auch wenn sich deine Vernunft wieder melden würde", brummte der Sergeant und blickte nun zu mir.
Ich schluckte und trat einen Schritt nach vorne. Mein Gehirn war blank. Ich hatte absolut keinerlei Ahnung was ich bitte sagen sollte. Man hätte von mir genauso gut verlangen können einen Handstand zu machen und auf Griechisch bis hundert zu zählen. Trotzdem öffnete ich meinen Mund:
„Ich bin..." ein winziges Zögern, dann kam mir endlich eine Idee „Polarfuchs."
„Polarfuchs?", fragte der Sergeant mit einer hochgezogenen Augenbraue nach, als ob er sich verhört hätte.
„Jawohl Sergeant", antwortet ich jedoch fest.
„Wieso dieses ungefährliche Tierlein?", fragte der Sergeant nach.
„Es wirkt unschuldig und süß und ist doch ein Raubtier, außerdem schafft er es im eisigen Klima zu überleben. Der Fuchs tritt in den Legenden als schlau und listig auf. So möchte ich sein", antworte ich entschlossen.
„Na, dann geb dir mal Mühe so zu sein wie ein Tier, das mir nicht einmal bis zu den Knien reicht", erwiderte der Sergeant nur und ging dann ein Stück zurück, um uns alle besser in Augenschien nehmen zu können.
„Wir fahren nun in unser Trainingslager. Es liegt ebenfalls hier in der Nähe. Fluchtversuche oder dergleichen sind nicht möglich. Ihr befindet euch mitten im borealen Nadelwald in Russland. Falls ihr es schaffen solltet aus dem Camp zu entkommen, wird euch hier niemand helfen. Auch von außen könnt ihr keine Hilfe erwarten. Das Gelände wird zu jederzeit gegen Eindringlinge bewacht. Natürlich passen die Wachen auch auf, dass ihr nicht entflieht. Ich erwarte wie gesagt strikten Gehorsam und größte Disziplin. Wer diese Ausbildung auf die leichte Schulter nimmt kann schneller sterben, als dass er „tot" sagen kann. Steigt nun alle in den Lastwagen, der vor der Tür wartet."
Ich schluckte. Ich war mitten in Russland? Wie um alles in der Welt war ich denn hierhergekommen? Doch ehe ich noch weitergrübeln konnte, schrie der Sergeant: „Auf geht's! Worauf wartet ihr noch?!"
Ich beschleunigte mein Tempo zu einem Laufschritt, doch schon schrie der Sergeant: „Schneller! Sind wir hier etwa im Altenheim?! Macht dass ihr euren Hintern in Bewegung setzt! Na wird's bald!?"
Ich rannte nun schon so schnell ich konnte, doch immer noch war der Sergeant dicht hinter mir und schrie was das Zeug hält. Er fluchte Schimpfwörter auf Englisch und andere Sprachen, von denen ich Gott sei Dank die meisten nicht verstand. Wolf, Bär, Schlange und Elfe waren schon weit vorne. Sie hatten bereits die Tür zum Hangar erreicht, doch Einstein und ich hinkten hinterher. Der Sergeant schien fast vollkommen auszurasten, doch wir gaben wirklich unser bestes. Als Einstein und ich keuchend in den Militärlastwagen kletterten, sprang der Sergeant wutschnaubend hinterher. Eben war mir noch einmal deutlich vor Augen geführt worden, dass die nächsten Tage, Wochen oder Monate, die Hölle auf Erden sein würden.
Aus den Chroniken der Tagwandler - Ein Bericht eines späteren Ratsmitglieds:
Mein Lehnsherr ist begeistert. Er hält das Band zwischen einem Vampir und einem Menschen, welches durch den Treueid und das Bluttrinken entsteht, für die Prägung. Er hat bereits Briefe in aller Welt geschrieben um die Ergebnisse meiner Studie zu verbreiten, doch ich zweifle, ob man mit meinen mühevoll erarbeiteten Forschungsergebnissen wirklich gut umgeht. Teilweise empfinde ich sogar das Gefühl, als habe ich die gesamte Menschheit in eine willenlose Sklaverei gedrängt, aus der sie nur der eisige Tod befreien kann. Zudem werden trotz meiner Studie die zahllosen Opfer des Hungers nicht viel geringer. Was soll ich nur tun?
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Verlorene der Nacht - 1. Band der Tagwandler Reihe
VampireUmgeben von der Dunkelheit, gefangen in den Armen eines Vampiroberhaupts und vermählt mit dem Tod, der sie auf Schritt und Tritt begleitet. Kates gesamtes Leben wurde in ein blutiges, dunkles Sein gerissen und sie steht mit all den zerbrechlichen Ho...