Endloser brauner Boden - 1

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Wir saßen alle gemeinsam auf einer Art Ladefläche, um die man eine Art Zelt gespannt hatte. Trotz übergezogener Softshelljacke war der Wind, der durch den zugeknüpften Planeneingang drang eisig. Unsere Körperwärme reichte nicht im Mindesten aus um die stickige Luft etwas aufzuwärmen. Alle Anwesenden waren mucksmäuschen still. Elfe, Schlange und Bär schienen zu schlafen. Wolf und der Sergeant beobachteten uns alle aufs Genaueste und Einstein blickte frech und vollkommen neugierig durch die Gegend, als hätte er den Spaß seines Lebens. Ich hatte meine Augen größtenteils geschlossen und versuchte ebenfalls wie die anderen drei zu schlafen, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Es war viel zu kalt dafür. Zudem ruckelte der Wagen bei jedem Meter so stark, dass ich aufpassen musste nicht von der harten, metallenen Bank zu fallen. Man hätte wirklich nicht auf die Anschnallgurte verzichten sollen.
Irgendwann schaffte ich es in einen Halbschlaf zu gleiten, doch bei jedem Ruckeln wachte ich wieder auf. Meine Tagträume waren unruhig. Schreie voll Grauen, wechselten sich mit blutigen Seen ab. Ihr rot war so kräftig, dass sie die restlichen Farben in ihre Tiefe zogen, um sie für ewig zu verschlucken. Vor meinem geistigen Auge kniete ich an einen dieser Seen. Flehend richtete ich meine Augen zum Himmel und betet zum ersten Mal seit einer Ewigkeit. Ich flehte zu jedem mir bekannten höheren Wesen, dass Jane und ich wieder lebendig aus dieser Situation herauskommen würden.
Der Militärlastwagen schien seine Geschwindigkeit zu verlangsamen. Elfe öffnete ihre geschlossene Augen und wirkte als habe sie nur für einen Moment geblinzelt. Bär und Schlange wurden von den heftigen Erschütterungen geweckt, die kurz darauf einsetzten. Ich wurde einem Pin Pong Ball gleich durch die Gegend geschleudert. Zuerst fiel ich gegen die Wand hinter mir, nur um einen Moment später auf Einstein zu landen, der gegenüber von mir saß.
„Setzt dich!", blaffte der Sergeant sofort.
„Jawohl Sir!", antwortet ich und biss mir auf die Zunge, um nicht irgendeinen bissigen Kommentar loszulassen. Was konnte ich dafür, dass ich weggeschleudert wurde? Ich war nicht über die Bodenwelle hinweggebrettert.
„Wir sind nun fast am Ziel", fing der Sergeant an zu erklären, „wenn der Wagen hält, werdet ihr euch alle in Habachtstellung auf dem Platz aufstellen. Verstanden?!", das letzte Wort schrie er wieder so laut als wolle er, dass die Vögel vom Himmel fielen.
„Jawohl Sergeant!", antworteten wir alle zeitgleich.
Der Wagen hielt an und ich musste mich an meinem Sitz festklammern, um nicht erneut wegzurutschen. Den anderen schien der plötzliche Stopp nichts auszumachen. Der Sergeant, Wolf, Bär und Schlange waren bereits draußen, auch Elfe folgte ihnen elegant wie eine Gazelle. Freundlich wie ich war, ließ ich Einstein den Vortritt und sprang als letzte nach draußen.
Es war eiskalt. Bestimmt herrschten Temperaturen unter null Grad. Die Sonne war von dicken Wolken verdeckt und so war der Anblick auf das Trainingslager nicht gerade freundlicher. Alles hier schien aus grauen, braunen und dunkelgrünen Tönen zu bestehen. Keinerlei freundliche Farben wagten es hervorzuspitzen. Ich konnte nicht einmal das stechende Gelb eines Löwenzahnes entdecken. Der graue geteerte Platz auf den wir zu rannten, befand sich in der Mitte des Areals. Neben ihm stand eine große Halle. Sie besaß massive metallene Wände, die jedoch grünbraun angemalt waren. Desweitern befand sich neben dem grauen Platz, ein gewaltiges Feld. Man hätte auf diesem zwei Fußballspiele nebeneinander austragen können, doch wuchs hier nicht ein einziger Grashalm. Stattdessen hatte die blanke braune Erde, diesen Teil vollkommen unterjocht. Es gab auch noch ein zweistöckiges Haus, aus dickem grauen Beton und einige Baracken aus Holz. Von den letzteren notdürftigen Behausungen blätterte bereits die grüne Farbe ab und einige Balken waren mit neuem Holz geflickt worden. Um das gesamte Lager herum waren kleinere Wachposten, die mit einem Wehrgang verbunden waren. Auf diesen patrouillierten Männer und Frauen in vollkommenen schwarz. Von dort oben hatten sie nicht nur einen guten Ausblick auf den sich dahinter erstreckenden dunkelgrünen Nadelwald, sondern auch auf unser Camp. Ein unbemerktes Entkommen schien unmöglich, zu Mal das Tor durch das wir gekommen waren, nun geschlossen und von zwei Wachmännern in seitlich angebrachten Kabinen bewacht wurde. Auch der Stacheldrahtzaun fehlte nicht und war überall dort angebracht, wo man eventuell eine Fluchtmöglichkeit sehen konnte. Doch mehr Zeit um meine neue Umgebung zu mustern blieb mir nicht. Die anderen waren bereits auf den Platz aufgestellt und der Sergeant warf mir nun allerhand Beschimpfungen an den Kopf, gemeinsam mit dem Befehl: „Meinen Arsch endlich hierher zu bewegen." Ich rannte schneller und schloss für einen Moment die Augen. Ich durfte nicht ausrasten. Was auch immer der Sergeant tun würde, wenn ich ihn anschrie, es würde grauenhaft sein. Ich musste die Demütigung ruhig über mich ergehen lassen, wenn ich den Kopf behalten und diese Prüfungen überstehen wollte.
Keuchend blieb ich neben den anderen stehen. Ich linste kurz zur Einstein rüber, um zu sehen wie genau die Habachtstellung funktionierte und versuchte sie dann so gut es ging nachzuahmen. Irgendwie musste man die Arme nach unten, die Füße etwas auseinander und den Blick nach vorne richten.
„Hab Acht!", befahl der Sergeant.
Was sollte denn das? Taten wir das nicht gerade? Schaute er gerade wirklich schon wieder zu mir herüber? Ich schielte nach rechts. Einstein war vollkommen angespannt und blickte starr gerade nach vorne. Er schien sich in eine lebendige Statue verwandelt zu haben, die Stellung seiner Arme und Beine hatte sich jedoch nicht verändert. Ich wollte ihn gerade wieder nachahmen, da packte mich jemand am rechten Ohr und zog daran.
„Au!", schrie ich aus und drehte den Kopf zur Seite, damit ich nicht länger das Gefühl hatte, jemand versuche mir meine Ohrmuschel abzureißen.
„Hast du mich auch diesmal nicht verstanden?! Was hast du dir dabei gedacht?", zischte der Sergeant in mein linkes Ohr das nun oben war, während er das andere immer weiter in Richtung Boden zog. Mittlerweile musste ich meine Knie beugen, denn die Kapazität meines Halses war bei Weitem überschritten.
„Was hast du dir dabei gedacht!?", schrie der Sergeant erneut. Diesmal so laut, dass ich das Gefühl hatte die Kirchenglocken aus Amsterdam läuten zu hören. Doch was sollte ich darauf antworten?
„Was... hast... du... dir... dabei... gedacht?", fragte er erneut und betonte dabei jedes einzelne Wort, während er so heftig an meinem rechten Ohr zog, dass ich vor Schmerzen aufschrie.
Mir wurde bewusst, dass ich antworten musste, wenn ich nicht mein Gehör verlieren wollte. „Nichts", wimmerte ich also leise.
„Nichts!?", schrie er zurück.
„Ja", flüsterte ich mit einer Stimme, die auch einem Toten gehören konnte.
„NICHTS WAS? JA WAS? HAST DU MIR ÜBERHAUPT EINMAL ZUGEHÖRT? DU SPRICHST MICH MIT SERGEANT AN UND DU ANTWORTEST MIT „JAWOHL SERGEANT" UND NICHT MIT „JA"!" Er brüllte so laut, dass sich ein hohes piepsiges Summen neben den Kirchenglocken dazu gesellte. Ich hatte furchtbare Angst. Jeder einzelne Gedanken schien sich auf das Schreien des Sergeanten zu konzentrieren. Selbst nachdem er mein Ohr noch weiter nach unten zog, konnte ich die Schmerzen nicht mehr spüren, sondern hörte nur seine Worte in meinem Inneren wiederhallen.
„ALSO? WIE ANTWORTETST DU DAS NÄCHSTE MAL?!"
„Jawohl Sergeant!", brachte ich mit piepsiger Stimme hervor.
„UND DIE ANTWORT ZUVOR?"
„Nichts Sergeant!", rief ich sofort voller Furcht.
„Gut." Er ließ mein Ohr los und ich wäre beinahe hingefallen, doch er packte mich an beiden Schultern und stellte mich wieder hin.

Verlorene der Nacht - 1. Band der Tagwandler ReiheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt