Das Campusgelände war groß. Meine Stunden waren wie immer langweilig gewesen und diesmal hatte ich nicht einmal etwas sehen können. Wie schon so oft fragte ich mich ob ich nicht vielleicht doch etwas anderes studieren sollte.
Ich blickte auf das dicke Buch in meiner Hand hinab. Es war eine Extraausgabe mit fast allen gesammelten Werken von Shakespeare. Vielleicht brachte es mir wirklich etwas, wenn ich den Wälzer für die baldigen Prüfungen las, doch um ehrlich zu sein würde ich lieber einen Kilometer rennen anstatt das Buch erneut aufzuschlagen.
Ich hatte all diese Bücher über alles geliebt bevor mein Schicksal beschlossen hatte, dass ein bisschen Tragödie meinen Leben ebenfalls ganz gut täte. Mein Vater wurde wie aus dem nichts erschossen und das in Deutschland! Wir waren ja nicht einmal in Amerika, wo jeder Kerl mit einer Waffe herumlaufen konnte, aber natürlich hatte man den Mörder meines Vaters nicht gefunden. Geschockt hatte meine Mutter zum Alkohol gegriffen.
Ich schüttelte den Kopf, was dachte ich da schon wieder?! Ich blickte auf das Buch in meiner Hand hinab. Ich hatte noch eine halbe Stunde bis ich bei meinen Halbzeitjob vorbeischauen musste. Seufzend setzte ich mich auf die nächstbeste Bank und versank in eine verrückte Welt hinter den Buchstaben voll Liebe, Intrigen und Verrat, wie sie im echten finsteren Leben längst nicht mehr vorkam.
Ich rannte. Viel zu langsam. Ich hatte es tatsächlich geschafft in das Buch zu versinken. Das hatte ich seit einer Ewigkeit nicht mehr getan. Als ich aus dem Gefängnis der Buchstaben wieder hervorgekrochen kam, war es schon spät, viel zu spät und nun rannte ich zu dem Café wo ich arbeitete. Ich durfte auf keinen Fall unpünktlich sein! Ich brauchte dieses Geld wirklich dringend!
„Kate!", hörte ich die Stimme meiner Mitarbeiterin Clary. Sie winkte mir aus der Tür des Cafés zu. Ich fluchte und legte einen Sprint zurück, der sich sehen lassen konnte.
Clary grinste. „Du brauchst nicht so schnell zu rennen, du hast noch ganze zwei Minuten um dich umzuziehen."
Ich fluchte erneut und versuchte noch schneller zu laufen. Vor dem Eingang des Cafés stoppte ich abrupt, setzte ein perfektes "Wie-geht-es-ihnen-heute?"-Lächeln auf und betrat zügig, aber nicht unhöflich das Café.
Die Sekunden, die ich brauchte um die kleinen Tische zu umrunden an denen fröhlich plaudernde Kunden saßen, kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Eine Ewigkeit, die von meinen mittlerweile eine Minute und dreißig Sekunden abgezogen wurden.
Als ich endlich die perlweiße Tür mit der Aufschrift "Kein Zutritt für Gäste" erreicht hatte, war ich erleichtert und gleichzeitig vollkommen bestürzt. Ich öffnete langsam die Türe, stürzte durch den Spalt hindurch, schloss sie leise hinter mir und rannte auf meinen Spint zu.
Ich riss mir meinen Pullover vom Körper, streifte mir das weiße Top über und zog die weiße Bluse an, wobei ich gleichzeitig versuchte meine Jeans auszuziehen und in den schwarzen Rock zu schlüpfen.
So schnell ich konnte band ich mir einen Zopf und schnürte mir die weiße Schürze um die Hüfte, während ich in die schwarzen Ballerinas schlüpfte, die mir etwas zu eng waren.
Die Alltagskleidung, die ich zuvor angehabt hatte, stopfte ich in den Spint ohne sie zusammenzufalten und schmiss die Türe hinter den zusammengeknüllten Haufen zu. Dann rannte ich zu der perlweißen Tür und setzte mein herzlichstes Lächeln auf, das ich besaß.
Sofort wurde ich mit Arbeit überschüttet. Hier Bestellungen aufnehmen, dort Geschirr abtragen, Tisch abwischen, Torten zuschneiden, Kaffee zubereiten, Abkassieren und die ganze Zeit lächeln, obwohl ich lieber zig tausend Flüche murmeln wollte, weil meine Schuhe an den Fersen und an den Zehn derartig drückten, dass ich mir sicher war, das dort schon zig Blasen, wenn nicht gar offene Wunden die Haut verunstalteten, doch ich biss die Zähne zusammen. Wenn ich etwas essen und gleichzeitig studieren wollte, musste weiteres Geld her. Die Zuschüsse vom Staat reichten alleine nicht aus.
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Verlorene der Nacht - 1. Band der Tagwandler Reihe
VampirosUmgeben von der Dunkelheit, gefangen in den Armen eines Vampiroberhaupts und vermählt mit dem Tod, der sie auf Schritt und Tritt begleitet. Kates gesamtes Leben wurde in ein blutiges, dunkles Sein gerissen und sie steht mit all den zerbrechlichen Ho...