Zwillinge - 1

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Ich starrte hinauf in den wolkenfreien klaren Himmel. Die eisigen Sterne blickten auf mich herab und achteten doch nicht auf mich, denn ich war zu klein um von Bedeutung zu sein. Mein Atem der aus meinem Mund hervorquoll verdichtet sich zu einer weißen Nebelwolke, die aufstieg und dann in der Dunkelheit verschwand. Das Leben war ebenso kurz und nichtig wie dieser Atemzug.
„Hey, was machst du denn noch hier?", fragte eine tiefe Stimme.
Ich drehte mich um und starrte Wolf mit einem glasigen Blick an. Sofort kam er näher.
„Warum warst du heute nicht beim Abendessen?", fragte er, obwohl er die Antwort sicherlich bereits von Einstein erfahren hatte.
Doch ich tat ihm den Gefallen und antwortete: „Ich musste Strafstehen." Strafstehen war eine Übung bei der man für eine sehr lange Zeit auf einem Fleck stehen musste ohne sich zu rühren. Auch wenn man es nicht glauben wollte, war das mehr als nur ein bisschen anstrengend und tat nach einer Weile am gesamten Körper weh, besonders da man die gesamte Zeit seine Muskeln anspannen musste.
„Wieso legst du dich dann nicht ins Bett oder setzt dich zumindest hin, wenn du fertig mit deiner Strafe bist? Das wäre doch sicherlich besser als hier weiter herumzustehen", fragte Wolf weiter nach, während er mir sanft über den Rücken streichelte, als wollte er mich trösten.
Ich schaute ihn an. Sein massiver Körper ragte vor mir auf und wirkte wie ein starker Fels in der Brandung, den kein Sturm erschüttern konnte. „Ich habe heute zum ersten Mal getötet", fing ich an zu erzählen, ohne dass ich auf Wolfs Frage einging.
„Ich weiß", erwiderte Wolf sehr ruhig. „Was willst du nun tun?"
„Ich weiß es nicht", antworte ich bedrückt und schaute zur Seite. Ich konnte meinem Teamkollegen nicht mehr in die Augen blicken.
„Hey!", starke Arme umschlossen meinen Körper, so als wollten sie mich trösten, mich festhalten und vor dem Sturm bewahren, der in meinem Inneren tobte. „Das ist jetzt schwer zu begreifen, doch du musst etwas verstehen: Hattest du Spaß beim Töten?"
Entsetzt entwand ich mich aus der Umarmung und blickte Wolf zornig an: „Natürlich nicht!"
„Wieso hast du es dann getan?", seine Stimme war so gelassen wie zuvor.
„Weil, weil der Sergeant Einstein bestraft hat, anstatt mich! Er hat ihm Qualen bereitet, obwohl ich am Versagen war!"
„Siehst du?", fragte Wolf mit einem zufriedenen Lächeln nach. „Du hast getötet um ein anderes Leben zu beschützen."
„Das ändert nichts an der Tatsache, dass ich ein unschuldiges Leben umgebracht habe!", schrie ich ihn wütend an. „Ich fühle mich so beschmutzt, so böse!"
„Deine Welt lässt sich nun nicht mehr nur in schwarz und weiß Tönen unterscheiden. Es gibt in deiner neuen Umgebung hellere und dunklere Facetten, doch in jedem der beiden ist ein Stück weiß und ein Stück schwarz zu finden. Du kannst nicht mehr denken, dass dies Böse und das andere Gut ist. Was würdest du sagen, ist es böse deinen Freund im Stich zu lassen, so dass er Qualen erleidet?"
„Natürlich!", rief ich sofort
„Und ist es auch böse ein unschuldiges Wesen umzubringen?"
„Auf jeden Fall!"
„Was wäre, wenn du dich für eines dieser Dinge nun entscheiden müsstest? Wenn du abwägen müsstest, ob du entweder deinen Freund Qualen erleiden lässt oder ob du ein friedliches Wesen, in diesem Fall einen Hasen, tötest?"
„Ich würde den Hasen töten, das hat man ja gesehen", murmelte ich niedergeschlagen.
„Bereust du deine Entscheidung?", fragte Wolf immer noch weiter.
„Ja", antwortete ich leise.
„Heißt das, wenn du in dieselbe Situation erneut kommen würdest, würdest du nicht deinen Freund beschützen, sondern den Hasen?"
„J..., Nein!" Eine kurze Pause folgte, dann dämmerte es mir langsam was Wolf mir versuchte zu sagen. „Nein, ich würde mich genauso entscheiden und meinen Freund beschützen."
„Verstehst du es jetzt? In der Welt in der du nun lebst, musst du eine Möglichkeit mit der anderen abwägen und dich dann für den Weg entscheiden, der weniger schlechte Folgen mit sich bringt. Du solltest niemals aus Spaß töten, doch wenn du jemanden umbringen musst, weil die anderen Optionen schlimmer wären, dann tu es."
Ich nickte langsam und bedächtig.
„Du brauchst in diesem Camp ein Ziel für das du Kämpfen kannst, etwas das dir immer wieder vor Augen führt, welche Entscheidung die Richtige ist. Überlege dir den Grund wofür du kämpfst gut, denn nach diesem Maßstab wirst du auch in Zukunft handeln müssen. Natürlich wirst du immer mit deinem Gewissen zu kämpfen haben. Den Tod eines Lebewesens sollte man auch nicht auf die leichte Schulter nehmen können, doch solange du einen guten Antrieb hast um diese Dämonen in dir zu bekämpfen, wirst du weitermachen können. Du solltest jedoch aufpassen, dich niemals in dem Morast des Todes zu verlieren, denn wenn du das tust, wird dein Charakter wahrlich böse sein und das Licht in dir ist dann so klein, dass es nicht mehr wahrzunehmen ist. Verstanden?"
„Ja." Ich spürte wie langsam wieder eine Entschlossenheit in mir hochstieg. Ich würde dieses Camp und all die Aufgaben nicht nur für Jane meistern, sondern auch für mein Team. Ich würde meine Freunde niemals mehr in Stich lassen.
„Gut, am besten du führst eine Art Tagebuch. An den Einträgen kannst du dann erkennen, ob und wie sich dein Charakter verändert. Hoffentlich kannst du dann noch rechtzeitig einschreiten, wenn du zu skrupellos wirst."
„Vielen Dank, Wolf!" Ich schloss ihn fest in die Arme. Hatte er schon damals, als er das Buch und den Stift mir gegeben hatte, gewusst, dass ich es eines Tages brauchen würde um mein Innerstes zu schützen oder war es reiner Zufall gewesen? Egal was es war, ich schuldete ihm etwas.
Wolf schloss mich ebenfalls in die Arme und drückte mich für einen Moment: „Keine Ursache Polarfuchs", dann bevor die Stimmung ins Seltsame umkippen konnte, packte er mich um die Hüfte und schmiss mich einem Kartoffelsack gleich über seine Schulter.
„Hey!", protestierte ich.
Wolf marschierte jedoch gelassen auf die Baracke zu, mein spielerisches Schlagen auf seinen Rücken ignorierte er. „Und jetzt wird endlich geschlafen! Für kleine Polarfüchse ist längst Bettruhe angesagt!"
Ich wand mich und versuchte wieder auf meine eigenen zwei Beine zu kommen, doch Wolf lachte nur und trug mich einfach weiter. Meine Anstrengungen schienen ihm so viel auszumachen wie das hilflose Gezappel eines Käfers auf dem Rücken.

Verlorene der Nacht - 1. Band der Tagwandler ReiheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt