Die Prüfung - 3

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Wir standen alle auf. Ich achtete peinlich genau darauf nicht in die Richtung des Toten zu schauen. Der Anblick der Leiche würde wohl genügen, um mich voll und ganz in Panik zu stürzen. Eine solche Schwäche würde entweder zu meiner Disqualifizierung, wohl eher aber zu meinem Tod führen. Meine Hände fingen an wieder zu zittern. Krampfhaft schob ich alle Gedanken zur Seite, während wir durch die Gänge liefen.
Unser Ziel stellte sich als ein Raum heraus, der wohl zehnfach so groß war wie die Sporthalle in meiner ehemaligen Schule. Hier waren alle möglichen Dinge aufgestellt, von Sportgeräten, bis hin zu einem Tisch mit Essen und einer provisorischen Feuerstelle. An vielen Stationen lagen alle möglichen Arten von Waffen. Ich hatte das Gefühl direkt in eine Folterkammer hineinspaziert zu sein. Die leere Stille, die nun wieder über den Anwesenden lag, half nicht gerade zu einem freundlicheren Vergleich bei.
Auf der anderen Seite der Halle öffnete sich eine große Tür. Herein kamen Männer und auch einige Frauen, die alle im gleichen Stil gekleidet waren. Militärhose, Stiefel, schwarzes Tanktop. Sie hatten jedoch alle unterschiedliche Frisuren, Gesichtszüge und stammten aus den verschiedensten Nationen. Nach ihren vollkommen gleichen Bewegungen hätten sie jedoch auch alle Klone von ein und derselben Person sein können. An jedem Oberarm war ein Stoffband in blau oder rot befestigt, so dass sie in zwei Gruppen eingeteilt werden konnten. Diese Menschen würden uns also testen. Sie würden unsere Fähigkeiten und Leistungen gnadenlos einschätzen. Bei dieser Aufgabe hatten sie bei mir sicherlich nicht viel zu tun. Als die Gruppe vor uns stand, trat eine Frau nach vorne. Sie hatte ihre Haare blutrot gefärbt und die Ohrringe, die sie trug, waren viel zu viele, um sie zu zählen. Auch ein silberner Nasenpiercing zierte ihr Gesicht. Ihre helllgrauen Augen musterten uns mit Eisblicken, die mir bereits sehr bekannt vorkamen. In ihnen lag jedoch eine weitere Facette, die uns scheinbar anschrie: „Leg dich doch mit mir an, wenn du dich traust. Ich freue mich immer einen kleinen Idioten belehren zu dürfen." Mit einer festen Stimme, die keinen Widerspruch duldete, erklärte sie das Prinzip nach dem wir getestet werden sollten. Insgesamt gab es zweihundert Stationen. Wir mussten jede abarbeiten und uns dabei im Gedächtnis behalten, welche wir noch nicht gemacht hatten. Uns standen insgesamt zwölf Stunden Zeit zur Verfügung, was so viel hieß wie ungefähr dreieinhalb Minuten pro Station und da war Wartezeit, wenn sie besetzt war, bereits enthalten. Was passieren würde, wenn man eine Station nicht machte, wurde nicht gesagt, aber nach dem Toten im anderen Zimmer war ich mir mehr als sicher, dass es etwas schreckliches sein musste. Uns wurde allen tatsächlich noch einmal viel Glück gewünscht, bevor die Trainer an ihre Station gingen. Die meisten Teilnehmer gingen ebenfalls bereits zielstrebig los. Ich war jedoch nicht gerade die schnellste und so musste ich etwas weiter weg vom Start gehen. Am Schluss fand ich meinen ersten Platz bei Station 134. Auf einem Tisch vor mir waren verschiedene Flaschen aufgestellt. Dahinter stand ein Mann mit roten Tuch, der mich verächtlich musterte.
„Was muss ich hier tun?", fragte ich vorsichtig.
„Die richtige Flasche nehmen. Hier an dieser Station bekommst du das Trinken für den heutigen Tag."
Ich schaute mir die Flaschen an. Es gab sie in alle unterschiedlichen Größen von einer zwei Liter Plastikflasche, bis hin zu einer fast schnapsglasgroßen Miniaturflasche war alles dabei. Die Flüssigkeiten in ihnen hatten verschiedene Farben. Man hatte die Wahl zwischen bunten, schwarzen und klaren Getränken. Manche wirkten als habe ein Einhorn in sie gespuckt, andere schienen aus dem tiefsten Abyss zu stammen.
„Hier", der Mann reichte mir die große Literflasche mit einer braunen Flüssigkeit.
„Die möchte ich nicht", rutschte es mir heraus. „Gibt es hier denn kein Wasser?", fragte ich im nächsten Atemzug schon, damit der Kerl hoffentlich nicht wegen dieser Respektlosigkeit ausflippte.
Der Mann runzelte belustigt die Stirn. „Ja, die Zweiliterflasche ist mit Wasser gefüllt, allerdings..." Er schaute mir fest in die Augen, so als wollte er mir mit bloßer Gedankenkraft seinen Willen aufzwingen. „Allerdings wirst du diese Flasche nehmen!" Wieder versuchte er mir die Flasche mit dem ekligen Zeug anzudrehen.
Ich wusste nicht wieso er es versuchte, doch ich erinnerte mich wieder an die Ansprache. Man musste den Leuten mit dem roten Band nicht gehorchen. Also nahm ich ohne den Mann aus den Augen zu lassen, die zwei Liter Flasche mit der klaren Flüssigkeit, öffnete sie und schnupperte daran. Es roch nach nichts. Hoffentlich war da Wasser drin. Ich nahm einen winzigen Schluck. Zumindest schmeckte es danach.
„Danke", erklärte ich höflich, drehte mich um und ging mit der Flasche in der Hand davon.
Hinter mir hörte ich ein leichtes Kichern und ein Wort: „Faszinierend."
Hoffentlich war das wirklich Wasser, dachte ich leicht panisch. Was sollte sonst großartig faszinierend sein?
Ich wollte bereits zur nächsten Station gehen, als auf einmal jemand einen schrillen Schmerzensschrei ausstieß. Ich wirbelte herum. An dem anderen Ende der Turnhalle, wälzte sich ein Mann auf dem Boden. Um ihn herum breitete sich eine rote Lache aus. Ich bildete mir ein den salzigen, metallenen Geruch von Blut wahrzunehmen, der langsam die Halle wie ein roter Nebel zu füllen schien. Die Angst und Panik kehrten mit voller Wucht wieder zurück. Hatte man auch auf Ihn geschossen? Es waren so viele Schüsse von anderen Stationen erklungen, dass ich das nicht genau sagen konnte. Zwei Männer, die an der Wand gestanden hatten, traten nun zu dem Mann, der sich auf den Boden wälzte und zerrten ihn an den Schultern hoch. Blut strömte weiterhin auf den Boden. Erst jetzt bemerkte ich, dass etwas in dem roten See lag. Ich versuchte das Ding zu erkennen. Es war vollkommen mit Blut verschmiert, doch die Form kam mir so bekannt vor. Das Etwas ähnelte einem roten dicken Ast, der sich in fünf kleinere Zweige aufteilte. Mit schaurigem Entsetzen wurde mir bewusst, was dort lag. Ich blickte zu dem Unterarm des schreienden Mannes und sah dort, wo das Handgelenk beginnen sollte, nur einen blutigen Stumpf. Immer mehr Blut quoll aus diesem hervor und fiel in einem roten Wasserfall zu Boden. Mir wurde schlecht. Ich wandte mich ab. Kurz darauf hallte ein weiterer Schrei durch die Halle. Ein weiterer Mann wälzte sich auf den Boden, doch ich rannte mit eingezogenen Kopf nur noch von einer Station zur nächsten. Ich versuchte Schmerzensschreie, das Wimmern, die Spannung in der Luft und der eklige metallene Geruch, der jede Sekunde stärker wurde, in meinen Aufgaben zu ertrinken. Ich rannte schneller als jemals in meinem Leben zuvor, kletterte, löste Rätsel, versuchte mich an Strategieaufgaben, hoffte mit allen möglichen Schusswaffen das Ziel zu treffen und schaffte es doch meistens nicht einmal die Waffen alleine zu laden, ich warf Messer durch die Luft und verfehlte jedes Ziel. Jedes Mal wenn ich zu einer Station mit einem roten Prüfer kam, wurde mir noch schlechter. Die Panik in mir wurde zu einer wilden Bestie, die in meinem Inneren tobte, denn der Boden vor jeder dieser Stationen war voller Blut und Erbrochenem. Man bekam Befehle wie sich die Hand abzuschneiden, mit einer Pistole auf sich selbst zu schießen oder sich umzubringen. Man durfte diese Befehle zwar ignorieren, doch wenn ein blauer Prüfer gleichzeitig eine Aufgabe verlangte wie aus Pilzen die essbaren auszuwählen und diese dann zu verzehren, wurde das Ganze dadurch nicht leichter. Als ich mich von einer weiteren roten Station abwandte. Seufzte ich erleichtert auf. Ich lockerte meine Schultern, um im nächsten Moment auf der Lache auszurutschen. Mein weißes T-Shirt zog sich voll mit dem metallenen, roten Blut und einer säuerlich riechenden, braungelben Masse. Einzig und allein ein Gedanke hielt mich noch bei Vernunft: „Ich musste Jane helfen!"


Aus den Chroniken der Tagwandler - Ein Bericht eines späteren Ratsmitglieds:

Es kam zu einer erstaunlichen Entwicklung. Die Testobjekte mussten mir und dem Aufsichtspersonal einen Eid auf ihr Leben ablegen, dass sie die Burg nicht verlassen würden. Dies geschah natürlich nicht freiwillig, sondern meistens schwebten die Menschen in Todesangst, doch dies tut im Moment nichts zur Sache, auch wenn es keine besonders schöne Angelegenheit ist. Als ein Vampir direkt nach dem Eid des Spenders von dessen Blut getrunken hatte, entstand für den Menschen anscheinend eine Art Bindung an diesem Eid. Leider kann ich das Ganze nicht vollkommen begreifen, denn als der Junge versuchte zu fliehen und den ersten Fuß außerhalb der Burgmauer setzte, verstarb er sofort. Die Gründe für seinen Tod sind unbekannt.

Verlorene der Nacht - 1. Band der Tagwandler ReiheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt