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Flashback

Entspannt lehnte ich mich in der großen Spinnenschaukel zurück und schloss meine Augen. Nur um kurz abschalten zu können von dem Stress und den Gedanken die mich verfolgten.
Immer wenn die Schaukel nach hinten schwang quietschte sie, wie wenn Frau Hartmann mit ihren Fingernägeln über die Tafel fuhr. Um jedoch zu verschwinden fehlte mir jegliche Motivation. Wahrscheinlich war sie mit dem Vertrauen zu dem Namenlosen gegangen. Ich war so wütend auf ihn. Er hatte mich belogen. Diese Schule hatte er noch nie besucht. Er war kein Schüler und dennoch war er immer hier. Was verheimlichte er mir noch alles, außer seinem Namen?
Der Wind fuhr mir durch meine Haare und ließ sie nach hinten wehen, während der Schnee, der noch auf der Schaukel war meine Kleidung durchnässte. Ohne auch nur eine Jacke war ich hier her gekommen. Ich wollte die Kälte einfach spüren, zittern und mich lebendig fühlen, ganz ohne ihn. Funktionieren tat es jedoch weniger. Die Kälte durchfuhr mich, aber ich fühlte mich nicht gut, eher elendig. "Hier bist du also. Ich habe dich gesucht", gestand mir seine Stimme, kurze Zeit später stoppte die Schaukel und wippte leicht nach vorne. Er war hier. "Ich hab auf dich gewartet, wieso bist du gegangen?", fragte er ohne auch nur eine Sekunde beleidigt gewirkt zu haben. Still blieb ich liegen, meine Augen geschlossen gehalten. Eigentlich wollte ich ihn anschreiben, ihm so viele Sachen an den Kopf werfen, doch ich blieb still. Die Enttäuschung war zu groß um ihm auch nur ein Wort zu schenken. Ich hatte ihm vertraut. Ich hatte gedacht er sei mein bester Freund, aber er hatte mich nur belogen, ausgenutzt, seine Prinzipien verraten. "Maskenmädchen", flüsterte er während er meiner kalten Wange entlang strich. Der Name, der mir immer ein Lächeln auf die Lippen zauberte, klang plötzlich so falsch. Das war doch nicht ich."Alaska. Ich heiße Alaska", brachte ich schluchzend hervor und setzte mich auf, öffnete meine Augen, betrachtete sein entsetztes Gesicht von der Seite. "Und wer bist du?" Sein Mund öffnete sich, die Wörter, die er aber anscheinend sagen wollten, blieben ihm im Hals stecken. Sprachlos saß er neben mir. "Warum aufeinmal?", brachte er heraus, griff dabei nach meiner Hand und hielt sie fest. Seine war so groß und seine Finger so dünn, meine war hingegen so klein mit Wurstfingern an ihr. Es sah wirklich seltsam aus. Desto trotz mochte ich es wenn er sie hielt. Dieses Kribbeln, welches meinen Körper dabei füllte war so atemberaubend. "Du hast mich belogen", fing ich leise ab, gewann mit jedem neuen Satz, den ich sagte, aber an mehr Selbstbewusstsein. "Du gingst noch nie auf diese Schule. Du bist kein Schüler von hier. Vielleicht bist du auch sonst schon lange kein Schüler mehr. Wie alt bist du eigentlich und wo warst du die ganze letzte Woche? Ich vermute jedenfalls, dass du nicht bei deinem Vater warst. Warum darf ich nie zu dir kommen? Warum erzählst du mir nie was von dir? Bedeute ich dir überhaupt auch nur ein wenig? Sag mir warum du so mit mir spielst?" Meine Hand ließ ich in seiner liegen und sah ihm in sein blasses Gesicht, welches entsetzen ausstrahlte. Irgendwo hatte ich ihn gerade getroffen. Einen Wunden Punkt den er mir wahrscheinlich auch nie verraten hätte. Er und ich, wir waren doch keine Freunde, nur Fremde mit gemeinsamen Erinnerungen. Zögernd stand ich auf, zog meine Hand weg und ging Richtung Haus. Vor ihm standen immer noch meine schwarze Schultasche und die Jacke, die ich über die gelegt hatte. Anscheinend wohl umsonst. Kälte half nicht. Nichts half , nur er. "Alaska!", rief mir seine Stimme nach und kurze Zeit später lag seine Hand auf meiner Schulter, die eine so wollige Wärme spürte. Ich sah zu ihm zurück, direkt in seine braunen Augen. So funkelnd schön. Konnte dieses Braun denn lügen? Wie es aussah schon und das zerbrach mir mein blutpumpendes Herz. Mit der Zeit drehte ich mich ganz zu ihm um, blickte auf seinen Mund bis dieser endlich anfing sich zu bewegen, fragen zu beantworten. "Ich bin 16 Jahre alt und ja ich gehe nicht mehr in die Schule, ich habe eine Lehre angefangen und kurz darauf wieder abgebrochen. Eigentlich habe ich keine Ahnung was ich in meinem Leben, mit meinem Leben anstellen will. Wer ich selbst wirklich bin, kann ich dir auch nicht recht beantworten. Tut mir leid, aber diese Antwort kenne ich nicht. Hab mich irgendwo zwischen all dem hier verloren. Die letzte Woche war ich wirklich bei meinem Vater und mir wurde wieder einmal bewusst, wie kurz das Leben doch ist. Zu mir eingeladen habe ich dich nie, weil meine Mutter einfach zu viel redet und wir keine Zeit mehr hätten. Außerdem mein Name ist Carlo Waibel." Er streckte mir seine Hand entgegen und obwohl ich ihm direkt gegenüber stand schien es plötzlich viel zu schwierig zu sein, diese Hand, welche ich hunterte mal schön berührt hatte zu schütteln. Der Namenlose hatte plötzlich einen Namen bekommen. Unmöglich. Carlo Waibel, Waibel Carlo. 16 Jahre. Er hatte mir so viel über sich erzählt. Weil er wollte das ich blieb? Aber... "Lunack Alaska" Tief atmete ich durch, und ergriff dann seine Hand. Seine Augen fingen bei meinem Namen an zu strahlen. Auf den Tag genau hatten wir es genau ein halbes Jahr geschafft unsere Namen gegenseitig nicht zu wissen. Ein halbes Jahr in dem wir uns immer wieder aufs neue trafen. Es hatte super funktioniert. Jetzt war es vorbei. Von der einen auf die anderen Sekunde, hatten wir plötzlich beide einen Namen, der über uns urteilen ließ. Aber ich wollte es doch so. Nicht er, nein ich. Wie konnte ich das alles nur zerstören nur weil ich wütend war? "Alaska ist ein schöner Name", meinte er während er meine Hand immer noch schüttelte. Er wirkte leicht benommen und nicht mehr ganz bei sich. Seine Augen glitten über die Landschaft und sein Gesicht wurde immer blasser. "Carlo?" Seine Augen fixierten sich für einen Moment auf mir. Abwesend starrte er mich an. Seine Gedanken schienen wegzudösen. "Carlo?", wiederholte ich seinen Namen. Ruckartig entrieß ich ihm meine Hand und hielt in an den Schulternfest, sodass er nicht nach vorne fallen konnte. "Alles okay?" Er schüttelte seinen Kopf, sein Atem wurde immer schwerer. "Mir ist so schlecht." Seine Augen fielen zu und er kippte direkt in meine Arme. Sein ganzes Gewicht lastete plötzlich auf mir, zu viel aufeinmal, meine Beine wurden Schwach und schon lagen wir zusammen im Schnee. Sein Kopf versank gänzlich in ihm, sein Atem wurde langsamer. Geschockt saß ich eine Weile Stillschweigend da. Mein Mund offen und mein Herz hämmerte ununterbrochen an meine Brustwand. Alles schweifte an mir vorbei. Was hier passierte verstand ich nicht. Sein Kopf steckte immer noch im Schnee, als ich mich aufstellte und ihn auf den Rücken drehte. Sein Gesicht war von dem gefrorenen Wasser weiß, aber auch sonst war er blass wie ein Geist. Meine Hände zitterten, als ich den Notruf mit seinem Handy wählte. Es tütete zwei mal bis eine männliche Stimme abnahm. "Hallo", hauchte ich gegen den Hörer und brach in Tränen aus. Er durfte nicht sterben, nicht jetzt wo ich seinen Namen kannte. Ich presste seinen Kopf an meinen Körper und strich ihm über sein braunes Haar. Durchhalten Carlo. Sei stark, für deine Maskentragende Alaska.
Was ist hier denn nur los? Du musst es mir später erklären. "Was ist passiert?", fragte der Mann am Telefon besorgt, der Klos in meinem Hals löste sich langsam wieder und ich erklärte ihm alles, gab ihm die Informationen, die er benötigte, um Carlo retten zu können. "Er darf nicht sterben. Bitte helfen sie ihm", krächzte ich, als er alles notiert hatte, jedoch sagte er dazu nichts mehr. Ich hörte nur das Klicken in der Leitung. Hoffentlich hatte er es gehört.

Zeit verging und von dem Rettungswagen war keine Spur zu sehen. Mit jeder Minute wurde der Junge den ich mit meiner Jacke zugedeckt hatte blasser und obwohl ich so nah an zuhause war, brachte mir das überhaupt nichts. Meine Eltern waren nicht hier. Alleine schaffte ich es nicht in weg zu tragen und alleine wollte ich ihn nicht lassen. Das einzige  was ich konnte war es zu hoffen und zu warten. Mit ihm zu reden und die Nerven zu behalten. Stark sein für eine Person, die es normalerweise immer für mich war. Jetzt war es umgekehrt und ich musste zugeben, es war wahnsinnig schwer, nicht durchzudrehen.
"Gleich sind sie da. Keine Sorge. Nur noch wenige Sekunden und dann werden sie dich untersuchen. Alles wird wieder normal sein. Du und ich gegen den Rest der Welt. Wie immer."

Der Maskenball (Cro Ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt