Müde strich ich mit der Hand über meine Augen. Wieso musste amerikanische Geschichte nur so furchtbar langweilig sein? Seufzend schlug ich das Buch zu, das auf meinem Schoß lag und sortierte meine Blätter in eine halbwegs sinnvolle Reihenfolge.
Seit einer knappen halben Stunde wartete ich bereits in der Bibliothek auf den Beginn der Tryouts. Ich hatte keine andere Gelegenheit gesehen, McTrayers zu finden und mich bei ihm zu entschuldigen und ich wollte es unbedingt noch heute hinter mich bringen. Selbst wenn ich nicht erwartete, dass McTrayers mir sofort verzeihen und vor Freude um den Hals fallen würde, so hoffte ich doch, dass ich zumindest das schlechte Gewissen beruhigen könnte, welches mich noch immer plagte.
Durch die täglichen Arbeiten von Rebecca war ich es gewohnt, schwer zu schleppen, doch mein eigenes Gewissen lastete gerade mehr auf mir, als irgendwelche Kisten voll mit Ein-Liter-Getränke-Flaschen es jemals könnten. Eigentlich seltsam - schließlich waren die Flaschen materielle Gegenstände, während es nicht einmal bewiesen war, ob 'das Gewissen' überhaupt existierte.
Das Vibrieren meines Handys holte mich aus meinen Gedanken. Eine Nachricht von Kayla - wer sonst würde mir schreiben?
> Hey... Ich muss mal wieder auf die Monster aufpassen... Schreib mir, wenn sich was tut in Bezug auf du weißt schon wen...
> Meinst du Voldemort? Der ist tot, falls du es noch nicht mitbekommen haben solltest... Gute Nerven bei den zweien!
Meine Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln, als ich die Nachricht an meine beste Freundin abschickte. Ich hatte schon so viele Bücher gelesen, dass ich eigentlich kein Lieblingsbuch bestimmen konnte - doch die Harry Potter Reihe war auf jeden Fall ganz oben mit dabei auf der Liste.
Apropos Bücher - meine Hausaufgaben hatte ich halbwegs fertig und konzentrieren konnte ich mich ohnehin nicht mehr besonders. McTrayers spukte schließlich schon den ganzen Tag in meinem Kopf herum und ich schaffte es nicht, nur für fünf Minuten an etwas anderes zu denken, als an ihn. Ganz ehrlich - so langsam ging mir das gewaltig auf die Nerven!
Unter diesen Umständen konnte ich es mir wohl erlauben, ein Buch aus den Regalen zu nehmen, die mich links und rechts überragten. Mit leuchtenden Augen legte ich den Kugelschreiber und meinen Block auf den Boden, stand auf und ging zielstrebig auf die Abteilung mit den fiktionalen Büchern zu. Beinahe andächtig strich ich mit den Fingern über die Buchrücken, während ich im Geiste die Titel vorlas.
"1984 von George Orwell, Alice's Adventures in Wonderland von Lewis Caroll, Anna Karenina von Leo Tolstoi, Gulliver's Travels von Jonathan Swift, Huckleberry Finn von Mark Twain, Lord of The Rings von J.R.R. Tolkiens..."
Ich könnte mit dieser Aufzählung ewig weitermachen und es wäre noch immer kein Buch dabei, das ich nicht kannte. Doch so sehr ich es liebte, alte Bücher zum hundertsten Mal zu lesen - gerade hatte ich wirklich Lust auf etwas Neues. Also schlenderte ich ein Regal weiter, ließ meinen Blick unruhig über die Buchrücken wandern und suchte nach einer passenden Lektüre. Ein Grinsen legte sich auf meine Lippen, als ich das Richtige gefunden hatte.
Schwungvoll zog ich es zwischen den anderen Büchern hervor, schlurfte zurück zu meiner Tasche und ließ mich seufzend in den gepolsterten Sessel fallen.
Noch dreizehn Minuten.
Plötzlich war ich unsicher, ob ich wirklich noch anfangen sollte, zu lesen. Womöglich sollte ich lieber jetzt schon zum Sportplatz gehen um McTrayers keinesfalls zu verpassen. Doch es würde viel zu verzweifelt wirken, wenn ich Ewigkeiten auf ihn warten würde. Schön, ich war verzweifelt - aber das musste ja nicht gleich die komplette Schule mitbekommen.
Ich ordnete trotzdem die herumliegenden Blätter in meinen Ordner ein und verstaute alles in meiner Umhängetasche. Dann strich ich unsicher über den Einband des Buches, während meine Gedanken wie bei einem Tennismatch hin und her flogen.
Noch neun Minuten.
Wie konnte die Zeit so schnell vergehen? Hatte ich ernsthaft vier Minuten nur dagesessen und überlegt, was ich tun sollte? Ich verdrehte die Augen über meine eigene Unentschlossenheit, stand auf und schlenderte langsam auf den Tisch der Bibliothekarin zu.
Miss Cameron beobachtete mich streng, als ich ein Sachbuch über amerikanische Geschichte und den Roman, welchen ich jetzt wohl doch zu Hause lesen würde, vor ihr ablegte. Sie hatte meinen Auftritt heute Mittag wohl noch nicht vergessen. Sofort schoss die Röte in mein Gesicht und ich versuchte, dem unheimlichen Blick der Bibliothekarin auszuweichen. Wortlos überreichte sie mir die Bücher, nachdem sie meine Ausleihe in den Computer übertragen hatte. Ich klemmte mir die beiden Werke unter den Arm und verließ mit schnellen Schritten Miss Camerons Reich.
Zwei Minuten vor Beginn der Tryouts stand ich am Rand des Footballfelds. Es liefen schon einige auf dem Rasen hin und her, warfen sich gegenseitig Bälle zu und versuchten, nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. Meine Zielperson war allerdings noch nicht dabei.
Meine Anspannung wich mit einem Schlag von mir, als sich eine Hand um meine Schulter legte.
"Find ich echt süß von dir, dass du zum Zuschauen kommst", raunte mir eine Stimme ins Ohr, die mir unwillkürlich Gänsehaut bereitete. Jordan. Was für eine Überraschung.
Ich wollte ihm gerade etwas erwidern, als ich den Blick einer ganz bestimmten Person auffing. Und dieser Blick war ganz und gar nicht freundlich. Scheiße.
McTrayers löste sich aus seiner Starre, als er bemerkte, dass ich ihn ebenfalls anschaute und drehte sich ruckartig um. Sofort machte ich einen Schritt in seine Richtung, doch ich hatte vergessen, dass ein Arm um meine Schultern mich fest im Griff hatte. Genervt drückte ich Jordan weg und lief McTrayers hinterher. Doch ich kam nur wenige Schritte weit, bevor er in der Umkleidekabine verschwand und die Tür hinter sich zu warf - ohne einen Blick nach hinten zu werfen.
"Mann, das ist alles deine Schuld!", stöhnte ich frustriert auf. Jordan zog nur eine Augenbraue nach oben und begann amüsiert zu grinsen. Ich atmete einmal durch, um mich ein wenig zu beruhigen (schließlich wollte ich nicht vor versammelter Mannschaft mit dem Captain des Footballteams einen Streit anfangen - ich hätte ohnehin verloren). Doch ganz verschonen konnte ich ihn nicht, denn als ich zurück zu Jordan ging, deutete ich anklagend mit den Finger auf ihn.
"Könntest du bitte damit aufhören, immer in den unpassendsten Momenten deine vermeintlichen Besitzansprüche zum Ausdruck zu bringen?", fauchte ich. "Du hast überhaupt keine Ahnung, welche weitreichenden Auswirkungen dein unüberlegtes Handeln auf die einfache Kommunikation zweier Gesprächspartner hat."
Jordans Mund öffnete sich, bevor er ihn wieder schloss. In seinem Gehirn schien es ordentlich zu arbeiten. Ich gebe zu, es war nicht immer einfach, die Monologe zu verstehen, die aus mir heraus purzelten, wenn ich aufgeregt war. Doch diesmal hatte ich mich doch einigermaßen verständlich ausgedrückt, oder?
Anscheinend nicht, denn Jordan öffnete seinen Mund wieder und heraus kam nur ein Laut: "Häh?"
Wäre ich nicht gerade ziemlich sauer auf den blonden Jungen vor mir, hätte ich wahrscheinlich lachen müssen. Es sah irgendwie echt niedlich aus, wie in seinen Augen pure Verwirrung stand, seine Stirn zu einer Falte verzogen war und sein Mund leicht geöffnet stand.
"Lass deine Finger von mir", übersetzte ich meinen kleinen Ausbruch.
Jordan sah noch immer verwirrt aus, doch ich hatte ehrlich gesagt keine Lust, noch einmal von McTrayers erwischt zu werden, während ich als Armstürze diente.
"Wir sehen uns", sagte ich deshalb, drehte mich um und ging zielstrebig auf das Gebäude zu, in dem sich die Umkleiden befanden. McTrayers würde wohl jeden Augenblick heraus kommen und ich wollte ihn keinesfalls verpassen.
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When I Lost My Book - Kind Of A Cinderella Story
Teen Fiction*Auf der Longlist der Wattys 2018!!* Joanne Rickman hat es nicht leicht. Sie wächst bei ihrer unliebsamen Stiefmutter und ihrer verzogenen Stiefschwester auf, hat wenige Freunde und träumt von ihrem eigenen Leben. Doch dann trifft sie auf Kingsley M...