Kapitel 40

2K 103 8
                                    

"Bis morgen früh muss das alles blitzblank sein! Ich möchte ein neues Aquarium sehen, neue Fische und eine wundervolle Unterwasserwelt. Nächste Woche wird schließlich die Familie meines Stellvertreters bei uns Abendessen und seine drei Blagen sollen hin und weg sein von unseren Fischen."

Ich hörte dem Monolog meiner Stiefmutter kaum zu, der in einer furchtbar hochnäsigen Stimmlage aus ihren aufgespritzten Lippen kam.

Fassungslos starrte ich die Scherben und die riesige Pfütze an, die sich vor meinen Füßen sammelte. Ich würde niemals zu dem Ball gehen können. Woher sollte ich denn bis morgen früh ein neues Aquarium her bekommen? Die Korallen und der Sand waren genauso für den Müll wie die toten Fische, die mittlerweile aufgehört hatten, zu zappeln. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich daran denken musste, wie kaltblütig meine Stiefmutter gerade ihre Haustiere getötet hatte.

Tränen sammelten sich in meinen Augen und das war es letztendlich, was mich aus meiner Schockstarre risse. Ich wollte meiner Stiefmutter nicht die Genugtuung geben und anfangen, zu heulen. Ich musste stark bleiben! Egal, wie wütend und enttäuscht ich gerade war.

Rebecca war wieder verschwunden und Arabella befand sich schon seit Stunden im Badezimmer. Ich sollte mich genauso wie meine Stiefschwester auf den Schulball vorbereiten. Stattdessen saß ich inmitten von tausenden Glasscherben und versuchte irgendwie die Sandkrümel aus dem hochwertigen Kaschmir-Teppich herauszubekommen. Meine Augen brannten und meine Lippe war schon aufgebissen, doch ich riss mich zusammen. Meine Wut war kaum noch zu kontrollieren, aber den letzten Rest Selbstbeherrschung hielt ich noch bei. Ansonsten wäre ich schon längst,  rasend wie eine Furie, durch das Haus geschossen und ich hätte nicht garantieren können, dass alle unverletzt geblieben wären.

Da ich aber meine restliche Lebenszeit nicht in Knast verbringen wollte, obwohl es kaum schlimmer sein konnte, als das eigene Gefängnis meiner Stiefmutter, schnitt ich Rebecca lediglich in Gedanken die Kehle durch. Ich malte es mir bis ins kleinste Detail aus, sodass mir dabei sogar ein klein wenig schlecht wurde - ich sollte definitiv keine hauptberufliche Auftragskillerin werden, denn ich fing ja schon bei dem bloßen Gedanken an Blut fast das Kotzen an. Doch es besänftigte meine Wut ungemein.

Ich war nicht viel weiter gekommen, als Arabella schließlich eine halbe Stunde vor Ballbeginn das Haus verließ.

"Ich werde bei Estelle abgeholt!", rief sie ihrer Mutter zu, bevor sie durch die Tür verschwand. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Seit dem kleinen Zwischenfall vor ein paar Tagen hatte ich Bella und Estelle kaum noch gemeinsam gesehen. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass meine Stiefschwester die Wahrheit sagte. Aber was wusste ich schon? Ich war schließlich doch nur der unbezahlte Haussklave dieser "Familie".

Bereits wenige Minuten später klingelte die Tür und störte mich erneut in meiner mühseligen Arbeit. Es war beinahe eine willkommene Abwechslung, den ruinierten Teppich zurück zu lassen und dem Besucher Eintritt zu verschaffen.

George McTrayers begrüßte mich mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Er sah seinem Sohn verdammt ähnlich und war meiner Meinung nach viel zu gut für meine Stiefmutter.

"Guten Abend, Joanne", begrüßte er mich charmant. Woher zum Teufel kannte er meinen Namen? "Gehst du nicht auf den Schulball heute?"

Wieso war er so verdammt nett zu mir?

"Ähm... nein", stammelte ich. Mehr brachte ich seltsamerweise nicht heraus.

"Komisch. Ich dachte, Kingsley hatte dich mal erwähnt", murmelte er, allerdings so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Es war eigentlich recht unwahrscheinlich, denn aus welchem Grund sollte Kingsley McTrayers mich seinem Vater gegenüber (oder überhaupt irgendjemanden gegenüber) erwähnen?

"Wie auch immer", fuhr Mr McTrayers in normaler Lautstärke fort, "ich bin eigentlich nur hier, um Rebecca abzuholen. Ist sie schon fertig?"

Ich wollte gerade meine Unwissenheit darüber entschuldigen, als meine Stiefmutter die Treppe heruntergeschwebt kam. Ein anderer Ausdruck hätte ihr wahrlich nicht gerecht werden können.

Sie trug ein langes dunkelrote Kleid aus Seide, was ihrer Figur unglaublich schmeichelte und ihre Brust gekonnt in Szene setzte. Es war auf den ersten Blick klar, welche Ziel meine Stiefmutter heute Abend verfolgte und dennoch wirkte ihre Robe überhaupt nicht billig. Das war die vermutlich auch nicht gewesen. Ich schätzte einen Preis im oberen dreistelligen Bereich. Nicht gerade ein Schnäppchen, aber meiner Stiefmutter wurde es genau gerecht.

Rebecca begrüßte Mr McTrayers Senior mit Küsschen links und Küsschen rechts, hakte sich bei ihm ein und ließ sich durch die breite Tür nach draußen führen.

"Ich wünsche euch einen schönen Abend!", rief ich ihnen nach, anstatt ihnen die Kerschaufel voller Glasscherben hinterher zu werfen, was ich tausendmal lieber getan hätte. Doch ich war einfach zu gutmütig für diese Welt.

Mr McTrayers drehte sich tatsächlich noch einmal um und einen kurzen kurzen Moment glaubte ich sogar ein wenig geqäultes Bedauern in seinem Blick zu lesen. Doch in der nächsten Sekunde strahlte er mich breit an und wünschte mir dasselbe.

Völlig perplex ließ ich die Haustür hinter den beiden ins Schloss fallen. Mr McTrayers wünschte tatsächlich mir einen schönen Abend? Naja, sogar wenn mir die Königin von England das wünschen würde, bezweifelte ich, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen könnte.

Schließlich war ich dazu verdammt auf dem Teppich herum zu rutschen, wobei ich mir die Knie mit den Scherben aufschlitzte, anstatt mich auf dem Schulball zu amüsieren wie es jedes andere High School Kid an diesem Abend machte.

Frustriert schmiss ich den dreckigen Lappen auf den Boden und vergrub mein Gesicht in beiden Händen. Endlich war ich allein und ich konnte die Tränen nicht mehr aufhalten, die sich schon seit Stunden in meinen Augen gesammelt hatten. Ein Schluchzer nach dem anderen schüttelte mich und ich war nur noch ein kleines erbärmliches Häufchen Elend, was heulend auf dem versauten Teppich saß. Kein Wunder, dass ich von Rebecca immer so zur Sklavin gemacht wurde - so wie ich hier nun hockte, hatte ich das wohl verdient.

Normalerweise war ich keine Heulsuse aber heute Abend war einfach zu viel für mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals verzweifelt sein würde, weil ich nicht auf den Prom durfte. Bisher war ich eher verzweifelt darüber gewesen, dass ich eben doch hin musste. Wann war ich bloß zu einem von diesen Mädchen geworden, was den Schulball als wichtig erachtete und vor Aufregung darüber kaum still sitzen konnte? Hatte ich mich durch diesen einen Kerl, der vor gerade mal drei Wochen in die Beverly Hills gezogen war, tatsächlich so sehr verändert? Oder hatte ich mein wahres Selbst bisher einfach nur versteckt - unter einer undurchdringlichen Schale, in die McTrayers irgendwie einen Riss hinein geschlagen hatte?

Ich verstand nicht einmal, warum mir der Ball so wichtig war. Ich hatte ja nicht einmal ein Date. McTrayers würde vermutlich mit Estelle hin gehen und ich hatte ohnehin nicht erwartet, dass er mich fragen würde.

Ansonsten kam auch niemand in Frage - Jordan war der Einzige, mit dem ich mich innerhalb der letzten Tage wenigstens noch ein klein wenig angefreundet hatte. Doch ihm hatte ich bereits abgesagt. Ich würde lieber alleine gehen, als mit Jordan als Begleitung. Auf die vielen abwertenden Blicke und neugierigen Fragen konnte ich gerne verzichten.

Die Türklingel riss mich aus meinem Selbstmitleid. Wer war das denn jetzt? Bella war bereits bei Estelle und Rebecca war von Mr McTrayers abgeholt worden. Keine von beiden sollte vor Mitternacht wieder hier sein. Kayla würde niemals ohne Vorwarnung hier aufkreuzen, ansonsten wäre sie schon längst einen Kopf kürzer, und von ihr hatte ich keine WhatsApp Nachricht bekommen.

Unsicher stolperte ich zur Tür. Der Postbote? Der kam wohl auch nicht mehr um diese Zeit. Die einzige Möglichkeit, herauszufinden, wer mich von meinem Selbstmitleid abhielt, war, die Tür zu öffnen.

"Oh mein Gott, was wollt ihr denn hier?" Das war alles, was ich heraus brachte, als ich die vier Besucher vor der Haustür erkannte.

Was war denn jetzt los?


//Endlich hab ich es auch mal wieder geschafft :) Was meint ihr - wer steht da vor der Tür??

When I Lost My Book - Kind Of A Cinderella StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt