Kapitel 45

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Ich rannte und rannte, ohne zu sehen wohin. Erst als mein Herz so stark gegen meinen Brustkorb hämmerte, dass es weh tat und jeder Atemzug ein krampfartiges Stechen verursachte, wurde ich langsamer. Doch ich blieb weder stehen, noch schaute ich mich um.

Ich gehörte nicht in diese Welt und es war Zeit, dass ich sie endlich verließ. Ich würde einfach abhauen, weit weg. Diese Elite der Vereinigten Staaten, Beverly Hills und Hollywood - das passte nicht zu mir. Ich würde mir ein eigenes Leben aufbauen. Einen Job suchen und von Vorne anfangen. Irgendwo, wo ich mich wohl fühlte.

Doch ich wusste in dem Moment, in dem ich den Gedanken fasste, dass ich nicht den Mut hatte, das durchzuziehen. Wie sollte ich das ohne High School Abschluss schaffen? Ich hatte kein Geld. Das Einzige, was mir blieb, war meine Yamaha - doch weit würde ich damit sicher nicht kommen.

Die Tränen liefen noch immer in Sturzbächen über mein Gesicht. Ich wusste nicht, wie ich sie hätte aufhalten können - aber ehrlich gesagt war es mir auch egal. Ich wusste nicht einmal, wo ich überhaupt war.

Irgendwann setzte ich meine Brille ab, wischte ein paar Mal über die Gläser und anschließend über meine Augen um wenigstens halbwegs etwas erkennen zu können und sah mich um. Ich war am westlichen Ende der Beverly Hills nahe am Rande eines kleinen Wäldchens. Bisher war ich erst ein einziges Mal hier gewesen, ich war nicht einmal sicher, ob ich den Weg gefunden hätte, wäre das meine Absicht gewesen.

Obwohl dieser Ort mit einer Erinnerung behaftet war, die mich mit den Zähnen knirschen ließ, ging ich langsam weiter. Mein Herzschlag beruhigte sich langsam, meine Tränen versiegten. Nun blickte ich nur noch vollkommen neutral auf den Weg vor mir und setzte einen Schritt vor den anderen.

Mein Zeitgefühl hatte ich komplett verloren. Es könnten Minuten aber genauso gut Stunden vergangen sein, seitdem ich Jordan mit seinem Jackett und meiner Handtasche allein gelassen hatte. Oh, Shit! Meine Handtasche, also auch mein Handy, meinen Hausschlüssel, meinen Ausweis - alles. Sogar mein Harry-Potter-Buch war noch auf dem Schulball.

Doch ich würde definitiv nicht umkehren! Ich brauchte jetzt erst einmal Ruhe, einen Ort, wo ich allein sein konnte und Zeit zum Nachdenken hatte. Deshalb lief ich weiter in Richtung des Sees, der schon ab und an zwischen den Bäumen hindurch blitzte. An diesem Waldsee, zu welchem mich McTrayers bei unserem Motorradausflug geführt hatte, würde sich bestimmt keine Menschenseele herumtreiben. Möglicherweise lag dies daran, dass dieser Ort genauso aussah, wie der See im dritten Teil von Harry Potter. Man befürchtete jeden Moment einen Dementor zwischen den Bäumen hervorschweben zu sehen, nur um dann von einem silberfarbenen Patronus geschützt zu werden. Natürlich wusste ich, dass der Film in England gedreht worden war, doch die Ähnlichkeit war verblüffend.

Kurz bevor Estelle mir den Abend zur Hölle gemacht hatte, war ich bei eben jener Stelle angekommen. Vor meinem geistigen Auge war die Landschaft, in der ich nun stand, während dem Gefangenen von Askaban beinahe die Seele ausgesaugt wurde.

Mit einem Kopfschütteln verjagte ich die Gedanken an den Roman meiner Lieblingsautorin. Ich nahm einen Stein vom Boden und schleuderte ihn mit aller Kraft von mir, bis er schließlich platschend in der Mitte des Sees eintauchte. Dem Stein folgten ein zweiter und ein dritter. Ich legte meine ganze Wut in die Würfe. Meine Wut auf McTrayers und Bella, auf Estelle, Jordan und ein bisschen sogar Kayla und vor allem die Wut auf mich selbst - dass ich wieder einmal so dumm gewesen war und geglaubt hatte, ich hätte ein Happy End verdient. Doch Wut war nicht das einzige Gefühl, das meinen Körper erzittern ließ. Ich war ebenso enttäuscht und traurig, sowie hoffnungslos.

All das schrie ich mir aus der Seele, bombardierte das klare Wasser mit den dreckigen Steinen und ignorierte das vereinzelte Kreischen der Tiere, welches durch den ansonsten so stillen Wald hallte.

Irgendwann wurden meine Schreie leiser, meine Arme kraftloser und die tausend Gefühle, die meinen Geist durchwirbelt hatten, nahmen ab. Beinahe schon ruhig ließ ich mich auf einem der großen Felsen nieder und blickte starr auf das glitzernde Wasser.

Eine lange Zeit saß ich einfach nur da. Ich bewegte mich nicht, ich dachte an nichts, ich war mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt geatmet hatte. So seltsam das auch war, erschöpfte mich dieses Nichtstun sehr. Mein Kleid war nun ohnehin ruiniert also kümmerte ich mich nicht weiter darum, legte mich auf die Seite und rollte mich zu einer Kugel zusammen. Kurz dachte ich an einen Igel, der sich auf diese Art vor seinen Feinden schützte. Bei mir war es eigentlich das Gleiche, nur fehlten mir die Stacheln.

Meine Augen richtete ich starr auf die Sonnenstrahlen, die sich in der Oberfläche des Sees spiegelten, während meine Gedanken langsam abdrifteten. Ich dachte an Logan, wie er immer zu mir stand, an meinen Dad, den ich so liebte und gleichzeitig so sehr vermisste und an meine Mum, an die ich nicht viele Erinnerungen hatte. Eigentlich kannte ich sie nur aus den Erzählungen meines Vaters, doch demnach musste sie eine unglaubliche Frau gewesen sein. Sogar sie vermisste ich gelegentlich, auch wenn wir uns nie wirklich kennen gelernt hatten.

Als ich die Augen das nächste Mal aufschlug waren die Sonnenstrahlen plötzlich verschwunden. Es war gerade noch hell genug, um die Bäume klar zu erkennen, doch es würde bestimmt nicht lange dauern und der Wald wäre mitsamt des Sees in tiefer Dunkelheit verschwunden.

Doch das fehlende Licht war es gar nicht, was mich aufgeschreckt hatte. Ein regelmäßiges Rascheln und Knacksen, welches immer näher kam - Schritte. Wer zum Teufel würde in def Dämmerung hier her kommen? Ein einfacher Spaziergänger, der seinen Hund ausführte? Eine motovierte Joggerin, die die letzten Lichtstrahlen des Tages nutzen wollte? Oder ein Dementor, der meine Erinnerungen an meine Eltern aufgespürt hatte?

Nein, ein Dementor konnte es nicht sein, der würde lautlos über den Waldboden schweben und nicht jeden zweiten Ast zerbrechen. Aber wer war es dann?

Mein Atem stockte, als eine mir sehr bekannte Silhouette zwischen den Bäumen hervor trat und sich suchend umschaute. Was wollte er hier? Suchte er nach mir? Wieso sollte er das tun? Und vor allem - wie konnte er mich finden? Ein verlassener See mitten im Wald war nun wirklich nicht der Ort, an dem man eifersüchtige Teenager vermutete, oder?

Sein Blick huschte unruhig hin und her, bis er schließlich auf mir liegen blieb. Erleichterung durchströmte ihn und er beschleunigte seine Schritte, um so schnell wie möglich zu mir zu gelangen. Ohne es zu bemerken war ich aufgestanden, bereit, mich zu verteidigen oder wegzulaufen. Doch ich tat nichts dergleichen, als er seine Arme um meinen schmalen Körper schloss und mich fest an sich drückte.

"Was machst du bloß für Sachen?", murmelte er leise. Ich konnte die Besorgnis und die langsam abnehmende Angst in seiner Stimme hören. "Es tut mir so leid. Ich bin ein Idiot und ich würde es verstehen, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst, aber bitte lass mich alles erklären!"

When I Lost My Book - Kind Of A Cinderella StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt