Kapitel 26

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Mit hochrotem Kopf sammelte ich die Blätter wieder ein, die gerade durch den unsanften Zusammenstoß mit einem Senior-Schüler der Abstammung King Kong zu Boden geflattert waren. Womöglich hätte ich nicht ohne Vorwarnung mitten im Flur stehen bleiben sollen, doch ich war viel zu fokussiert auf mein Smartphone gewesen.

> Du hättest auch einfach einen Zettel in meinen Spind legen können...

Nur elf Worte, ohne Emoji, vollkommen neutral gehalten - und trotzdem bedeuteten sie mir unglaublich viel. Denn diese Nachricht war das Zeichen, dass McTrayers mir verziehen hatte.

Es stellte sich nur noch die Frage, wie er an den Brief gekommen war. Den Plan mit Estelle als Boten hatte ich nämlich (in Absprache mit der teuflischen Seite meiner selbst) schnell wieder verworfen. Es musste ihm also jemand anderes den Brief gegeben haben - und ich hatte auch schon eine ganz bestimmte Person auf meiner imaginären Liste von Verdächtigen.

Allerdings war mir noch nicht so ganz klar, warum meine Stiefschwester das hätte tun sollen, denn sie tat grundsätzlich nichts, woraus sie selbst keinen Nutzen ziehen konnte. Den einzigen Vorteil, den ich jedoch in dieser Sache für sie sah, war, dass ich mich vor McTrayers und der gesamten Calabasas High zum Affen machte - doch irgendwie wollte ich das nicht so recht glauben. Dieses Ergebnis hätte sie auch auf einfachere Weise erreichen können. Sie hatte wirklich keinen Grund, mir den Zettel aus meinem Zimmer zu klauen und ihn dem ursprünglich geplanten Empfänger zu überreichen.

Andererseits würde es erklären, warum sie heute morgen so erpicht darauf war, in die Schule zu kommen. Offensichtlich hatte sie sich meine Schlampigkeit zu diesem Zeitpunkt bereits zu Nutze gemacht und sich den Brief unter den Nagel gerissen.

Ich war nicht sicher, wie ich über diese ganze Sache denken sollte. Womöglich hatte ich ja Glück und es würde sich tatsächlich etwas Positives daraus ergeben? Doch die Hoffnung, die sich in mir regte war mikroskopisch klein. Hauptsächlich war ich sauer - und zwar nicht auf meine Stiefschwester (obwohl ich wahrscheinlich allen Grund dazu hatte) und auch nicht auf McTrayers (auf ihn könnte ich vermutlich selbst mit einem triftigen Grund nicht böse sein), sondern auf mich selbst.

Wie hatte ich nur so blöd sein können und den Zettel nicht einfach verbrannt?

Andererseits hatte er ja seinen Zweck irgendwie erfüllt - also vielleicht sollte ich mal mit ein wenig Optimismus an die Sache heran gehen. Ich könnte einfach die Gelegenheit nutzen, auch wenn es mir nicht besonders gefiel, auf welchem Weg ich an diesem Punkt angelangt war.

Seufzend richtete ich mich wieder auf und stapfte in Richtung meiner nächsten Unterrichtsstunde.

So sehr ich auch versuchte, mich auf Mrs Richards Englischunterricht zu konzentrieren - meine Gedanken wollten einfach nicht in diesem Raum bleiben. Soziale Netzwerke waren aber auch wirklich ein ungünstiges Thema in meiner jetzigen Situation, denn sobald das erste Mal das Wörtchen "WhatsApp" fiel, überlegte ich, was ich McTrayers zurück schreiben könnte. Als jemand "Facebook" zur Sprache brachte, überlegte ich, wie McTrayers' Profil wohl aussah. Bei der Erwähnung von "Twitter" juckte es mich in den Fingern, seinen Namen in der Suchleiste der App mit dem blauen Vögelchen einzugeben. Und sogar noch bevor die erste Person den Names der Internetplattform erwähnte, fragte ich mich, ob McTrayers wohl Videos auf seinem YouTube Channel postete.

Zeitgleich mit dem Klingeln stürmte ich aus dem Klassenzimmer und kämpfte mich durch die Schülermassen in Richtung der Kunstsäle. Ich musste unbedingt mit Kayla sprechen und sie hatte gerade eine Stunde Kunst hinter sich.
Ungeduldig wartete ich vor den Räumen auf meine beste Freundin. Mein Herz klopfte aufgeregt, während ich unruhig herum zappelte. Endlich entdeckte ich den schwarzen Lockenkopf, packte sie am Arm und zog sie mit mir nach draußen.

"Aua! Was ist denn los? Kannst du nicht - lass mich los!", zeterte Kayla, sobald ich sie im Griff hatte. Doch ich ignorierte sie, wartete, bis wir in einer unbeobachteten Ecke waren und hielt ihr dann wortlos mein Handy vor die Nase.

"Was ist das denn?", fragte Kayla, während sie ihr Augen kritisch zusammenkniff und versuchte, die Textnachricht zu entziffern.

"Oh, mein Gott - ist das von Kingsley?" Kaylas Begeisterung war für mich eher unverständlich, doch ich nickte.

"Anscheinend hat er irgendwie doch den Brief bekommen", murmelte ich, peinlich berührt.

"Ich dachte, du wolltest das gar nicht mehr", meinte Kayla verwirrt. Ich zuckte nur hilflos mit den Schultern.

"Aber wer hat dann -", begann meine beste Freundin, als ihr plötzlich ein Licht aufzugehen schien. "Arabella."

Wenn man vom Teufel sprach... Und in diesem Fall passte das Wörtchen 'Teufel' sehr gut.

Mit wehenden Haaren und beinahe triumphierenden Gesichtsausdruck kam Bella auf mich zu. Was wollte sie denn jetzt noch? Hatte sie nicht längst erreicht, was sie bezweckt hatte?

"Wir müssen reden", sagte meine Stiefschwester, beinahe unsicher, als sie vor mir stehen blieb.

Ich nickte, um ihr anzudeuten, dass sie fortfahren solle, doch sie lenkte ihren kritischen Blick auf Kayla. "Allein."

Seufzend drehte ich mich zu meiner besten Freundin und bedeutete ihr, zu verschwinden. Ich würde ihr nachher sowieso alles erzählen.

Erst, als Kayla außer Sichtweite war, sah meine Stiefschwester mich wieder an - und sie wirkte seltsam aufgeregt.

"Hat er dir geschrieben?", flüsterte sie, mit einem Leuchten in den Augen, fast als würde sie sich für mich freuen. Ich runzelte nur verwirrt die Stirn und blieb stumm.

"Okay, ich geb's zu", seufzte Bella. "Ich habe diesen Zettel aus deiner Tasche genommen und ihn Kingsley gegeben. Du hättest das doch sowieso nicht hinbekommen und irgendwie finde ich, du hast auch das Recht auf eine faire Chance."

Sollte ich das wirklich glauben? Arabella hatte den Brief an McTrayers übergeben, weil sie mir helfen wollte? Unsicher blickte ich mich um, beinahe in Erwartung, das Kamerateam einer Reality-TV-Show zu entdecken. Doch bis auf meine Stiefschwester und mich waren alle bereits wieder in ihrem Unterricht.

"Hör zu. Ich kann mir vorstellen, dass du ein bisschen sauer auf mich bist. Das darfst du meinetwegen auch sein. Aber ich bin mir sicher, dass du mir letztendlich dankbar sein wirst, deshalb bitte ich dich um einen Gefallen."

Diese Situation wurde echt verrückt. War ich vielleicht heute Nacht gestorben und in einem Paralleluniversum wieder aufgewacht? Wie konnte es sein, dass Arabella plötzlich anfing, mir zu helfen und mich anschließend noch um einen Gefallen bat? Ansonsten schaffte sie mir einfach an - und ich wehrte mich ohnehin nicht gegen ihre Herrschsucht.

"Du musst mir helfen."

Okay, jetzt war ich hoch offiziell bereit für die Klapse. Ich konnte es mir nicht anders erklären - das mussten einfach Halluzinationen sein.

Denn die Bella, die ich kannte, würde niemals irgendjemanden um Hilfe bitten. Sie würde nie zugeben, dass sie etwas nicht alleine schaffte und schon gar nicht vor mir. Also wer zur Hölle war dieses Mädchen das vor mir stand und mich im Körper meiner Stiefschwester unschuldig an lächelte?

When I Lost My Book - Kind Of A Cinderella StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt