2. Kapitel

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Hinter mir und neben mir drängen sich tausende Menschen.
Wie sie warte ich auf fünf Sänger.
Das einzige, was mich von ihnen unterscheidet, ist meine Angst vor dieser Begegnung.
Und dass Pentatonix, wahrscheinlich ohne es zu wissen, mein komplettes Leben verändert und auf den Kopf gestellt hat.

Als sich die Scheinwerfer zum zweiten Mal an diesem Abend auf die Bühne konzentrieren, schließe ich die Augen, spüre das Adrenalin und die Angst durch meinen Körper schießen, versuche meine innere Stimme zu verdrängen.
Sie fragt, wohin das Mädchen gegangen ist, das so oft gefallen und doch immer wieder aufgestanden ist.
Bis jetzt. Jetzt liege ich immer noch auf dem Boden.
Sie fragt, wieso ich mich verschließe und nicht froh bin, dass Avi sich noch an mich erinnert.
Sie fragt, wieso ich hier bin, wenn ich doch nicht mehr will.
Sie fragt, wieso ich mich nicht treiben lasse.
Sie fragt, wieso ich mich nicht freue, dass mein Vater aufgetaucht ist.
Sie stellt Fragen, vor denen ich mich im Hotel so gut verstecken konnte, denen ich so gut ausweichen konnte, vor denen ich so gut fliehen konnte.
Doch die Mauer in meinem Kopf ist gefallen, seit ich die ersten Klänge von Cracked gehört habe.
Ich schlucke die Tränen hinunter und öffne die Augen.
Ich stehe in der ersten Reihe, direkt in der Mitte.
Mitch steht drei Meter von mir entfernt und singt, als würde sein Leben davon abhängen.

Ganz hinten stehen zwei schwarz vermummte Personen, die ein Plakat in die Höhe recken.
Die Worte lassen
mir das Blut in den Adern gefrieren.

Singt um euer Leben.

Mehr nicht.
Einfach die Worte, weiß auf blutrot, glänzend und deutlich sichtbar im Schwarzlicht.

Mein Herz schlägt viel zu schnell, als ich meinen Kopf drehe und die hintere Wand absuche.
Dass ich nichts finde, lässt die Übelkeit nicht verschwinden. Von links ernte ich einen besorgten, kurzen Blick, doch als ich der jungen Frau ein kurzes Lächeln schenke, dreht sie sich wieder zur Bühne.
Ich kann sie ja verstehen.
Aber ich habe es nahezu verlernt, ich bekomme meinen Kopf nicht frei, kann nicht folgen.
„Hallo, San Jose!", ruft Kirstie euphorisch und ich schrecke aus meinen Gedanken.
„Seid ihr gut drauf?", grinst sie und erntet wie immer irrsinnig lautes Jubeln.
„Es ist so toll, wieder hier zu sein!", ruft Mitch und stellt sich neben die junge Frau an den vorderen Rand der Bühne.
Seine Augen funkeln voller Freude und Begeisterung, als er sich umsieht.
Auch Kirstie blickt kurz in den hinteren Teil der Halle und winkt den Leuten dort lachend zu.
„Sind hier auch alle wieder so schön?", fragt Scott und kommt mit einem schelmischen Lächeln und einem Handy in der Hand zu den anderen Beiden.
Keine zwei Meter von mir entfernt steht das Trio, und doch spüre ich nichts.
Ich bin nicht aufgeregt, durchgedreht, euphorisch.
Ich schaue zu ihnen hoch, sehe, dass sie über mich blicken, die erste Reihe nicht absuchen.
Ob sie wissen, dass ich da bin?
Ob sie Angst davor haben, so wie ich?
Ob sie sich überhaupt an mich erinnern?
Oder war das einzig und allein Avi?
Ich drehe meinen Kopf zur Seite und sehe den Basssänger, der eine solche Ruhe und Kraft ausstrahlt, dass ich mich schwach und klein fühle, so wie ich gerade bin.
Kirstie erzählt weiter, aber ich kann meinen Blick nicht mehr von dem Dunkelhaarigen reißen, nicht bei Jolene, nicht bei Light in the Hallway, nicht, als sie mit Sing die Stimmung wieder aufkochen lassen.
Und dann ist es vorbei.
Avi ruft ein Danke in die Menge, winkt und macht sich auf den Weg zum Bühnenausgang.
Doch bevor er verschwinden kann, fällt sein Blick auf mich, klar, stark, ruhig.

Gemischt mit purer Dankbarkeit.

Eine Träne läuft über meine Wange, ohne dass ich es realisiere.
Er erinnert sich an mich.

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