5. Kapitel

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Pentatonix.

Avi.

Das Meet & Greet.

Ich fühle mich fiebrig, alles was geschehen ist, ist so unwirklich, und dennoch passiert es.
Jetzt gerade.
Mir.
Ich weiß nicht, was Avi von mir denkt, aber ich weiß definitiv, was ich von ihm denke. Und von den anderen.
Für einen kurzen Moment sehe ich die vier Silhouetten vor mir, in dem kleinen Raum. Dann seinen Blick, stechend grün.
Er hat Angst.
Vor mir, vor den Anschlägen, vielleicht vor sich selbst.
Ich verstehe ihn, so sehr, dass es wehtut.
Er ist ein ganz normaler Mensch mit unglaublichem Talent und Glück. Er hat das Leben im Rampenlicht verdient, aber das ändert doch nichts an seinen Gefühlen, an seiner Angst, es macht sie nur stärker.
Er darf nicht als er selbst in die Öffentlichkeit treten, ohne sofort abgestempelt zu werden, ohne fürchten zu müssen, dass er erkannt wird, dass seine Schritte genau dokumentiert und veröffentlicht werden.
Er muss mit der ständigen Angst leben, dass Leute wie mein Dad beschließen, dass das Konzert von Pentatonix für einen Anschlag perfekt ist.
Ich stelle mich dieser Gefahr ganz alleine, ganz bewusst, auch wenn ich hoffe, flehe, dass es nicht noch einmal passiert. Ich habe mir ausgesucht, was ich mache. Er allerdings hat beim Sing Off teilgenommen, ohne nur im Geringsten erahnen zu können, was danach alles geschehen würde.

Ich sollte endlich überlegen, was ich wirklich will.
Auch wenn ich mir einrede, dass ich es längst weiß.
Ich mache das alles, weil ich Antworten will.
Ich will sie warnen, ihnen sagen, was sie machen müssen, ihnen helfen.
Und ein furchtbar egoistischer Teil von mir will sie einfach nur kennenlernen.
Fotografieren.
Sie als die Menschen wahrnehmen können, die sie wirklich sind, nicht nur als Pentatonix.
Ich will neben ihnen stehen können, während andere so sind wie ich früher.
Ich sollte mich wirklich ändern, sonst sehen sie wahrscheinlich nur mein egoistisches Selbst, welches das alles aus purem Eigennutz macht.

„Hey, Mama", sage ich, etwas kleinlaut, als ich sie eine knappe Stunde später anrufe. Mein Kopf war wie leergefegt, als ich nachdenken wollte, und deswegen hat es nicht sonderlich lange gedauert, bis ich nicht mehr wusste, worüber ich noch grübeln könnte. Mir war nach kurzer Zeit nicht mal mehr bewusst, wieso ich überhaupt aufhören und nach Hause fliegen wollte.
„Hey, meine Große", antwortet sie, fast tonlos, und ich beiße mir auf die Unterlippe, während ich meine Augen zusammenkneife. Ich hätte sie viel öfter anrufen sollen.
„Alles okay bei dir?", frage ich und erhalte ein leises Seufzen als Antwort.
„Ich habe eine Hauptrolle in einem großen Stück knapp nicht bekommen, deswegen macht die Oper jetzt Druck. Die wollen, dass ich es durch ein Casting schaffe und auftrete, sonst verkürzen die meinen Vertrag oder werfen mich gleich raus", erzählt sie.
„Aber du bist total gut! Welcher Idiot besetzt die Hauptrolle nicht mit dir?" Fassungslos stehe ich vom Bett auf und gehe ans Fenster.
Ich habe Videos von meiner richtigen Mutter gesehen, Aufnahmen von den Stücken, und sie war wirklich irrsinnig gut, aber meine Pflegemutter ist ihrem Talent eine wahre Konkurrenz.
„Das erzähl mal jemandem, der ein junges, modernes, erfrischendes Stück machen will. Die brauchen keine alten Opernsängerinnen wie mich." Ein trockenes Lachen kommt über ihre Lippen, als glaube sie selbst nicht wirklich daran. Wahrscheinlich zweifelt sie an ihrem Talent, wie so oft in den letzten Jahren. Es ist schlimm geworden, und vermutlich noch schlimmer, seit ich weg bin.

Aber ich hätte nicht gedacht, dass es schon so schlimm ist.

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