3. Kapitel

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Ich sitze im Flugzeug.
Ich habe wie ferngesteuert gepackt, den Zettel mit dem Flug aus dem kleinen Nebenfach an meinem Koffer geholt, mich zum Flughafen gekämpft.
Erst jetzt begreife ich, dass ich wirklich weitermache, und zum ersten Mal überhaupt bin ich froh, dass ich keinen Flug direkt nach West Valley City habe. Vom Flughafen in Salt Lake City werde ich mir einen Bus suchen oder trampen müssen, aber das ist eindeutig besser, als den gesamten restlichen Tag im Hotel zu verbringen, wo ich meine Gedanken nicht zurückhalten kann.
Als ich merke, wie ich auch jetzt schon immer wieder abschweife, schnappe ich mir meine Kamera und durchsuche die Fotos.
Mein Handy ist im Flugmodus, und auch wenn die Stewardess vorhin gesagt hat, dass das nur für die Start- und Landephase gilt, traue ich mich nicht einmal, es anzufassen, weil mir meine Sitznachbarin dafür jedes Mal einen bösen Blick zuwirft.
Die zwei Stunden werde ich hoffentlich auch so überleben. Ich darf nur nicht über Avis Blick nachdenken, die Dankbarkeit, darüber, dass er mich beim Meet & Greet nicht auf damals angesprochen hat, sondern nur die anderen informiert, ich darf meine Gedanken nicht zu Leon wandern lassen, der meine Mutter und mich im Stich gelassen hat und jetzt wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, ich darf nicht überlegen, was passiert wäre, wenn er nicht gegangen wäre, ich darf meine Sehnsucht nach einem geordneten Alltag nicht die Überhand gewinnen lassen.
Also darf ich genau das nicht, was ich gerade getan habe.
Kein Problem.
Absolut kein Problem.

Eine halbe Stunde später habe ich alle Bilder durchgeschaut und eingesehen, dass ich Pentatonix und Leon nicht für immer aus meinem Kopf verbannen kann.
Die Fotos haben mir mehr dabei geholfen, als mir lieb ist.
Das erste Konzert, damals in Osaka, mit dem Meer aus blauen Kappen.
Die Plakate von Beyoncé in Kuala Lumpur.
Die ganzen Sehenswürdigkeiten, für die ich mir am Anfang noch so viel Zeit genommen habe.
Jetzt ist es anders.
Jetzt fahre ich vom Flughafen zum Hotel, vom Hotel zur Konzerthalle und wieder zurück, und dann wieder zum Flughafen.
Ich habe keine Zeit mehr.
Keine Kraft.
In manchen Momenten fühle ich mich einsam, als hätte ich seit Jahrzehnten nicht mehr mit einem Mensch gesprochen, auch wenn ich mindestens einmal pro Woche mit Lucia telefoniere.
Aber das ist etwas anderes, als sie zu sehen, blöde Witze zu machen, die nur sie versteht.

Nach dem Flug stehe ich, zugegebenermaßen etwas hilflos, vor dem riesigen Flughafen und schaue mich um.
Von hier fahren gefühlte tausend Busse und in jede noch so kleine Lücke quetscht sich regelmäßig ein neues Taxi. Der Flug hat mich müde gemacht, die Gedanken haben mich ausgelaugt, und so stehe ich vollkommen überfordert mitten im Weg, bis mein Handy klingelt.
„Na, schon angekommen?", meldet sich Lucia viel zu gut gelaunt.
„Ich bin müde", beschwere ich mich, „Und ich muss noch irgendwie nach West Valley City kommen."
„Wehe, du trampst", meint Lucia und schließt eine der drei Möglichkeiten somit aus.
„Bus oder Taxi?", frage ich, doch meine beste Freundin übergeht meine Hilflosigkeit einfach.
„Ich weiß, dass du gerade absolut matschig bist, und so setzt du dich nie im Leben zu einem Fremden ins Auto, der dich sowieso nur ausnutzt."
„Bus oder Taxi?", frage ich noch einmal ein wenig lauter.
„Bus. Wo bist du gerade? Ich kann nach einer Verbindung schauen", antwortet Lucia.

Und letztendlich sitze ich doch neben jemandem im Auto, weil der einzige Bus nach West Valley City so liebenswürdig war und mir direkt vor der Nase weggefahren ist.
Immerhin ist es eine ältere Frau, sonst hätte mich Lucia wahrscheinlich umgebracht, noch bevor ich hätte einsteigen können.
„Und, was führt jemanden wie dich in die USA?", fragt sie mit einem neugierigen Lächeln und schaut mich kurz von der Seite an.
„Ein verrückter Vorfall, ein verrückter Plan und mehrere verrückte Menschen", fasse ich seufzend zusammen und lächele schief, als mir mal wieder bewusst wird, was ich hier eigentlich mache.


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