4. Kapitel

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„Na, hast du alles überlebt?", fragt mich Lucia wenige Stunden später.
„Es gibt gleich Abendessen, ich hab verdammt viel Hunger. Bring mich nicht um, wenn ich dich gleich wieder abwimmeln muss, ja? Aber so wie ich das sehe, lebe ich noch", stelle ich gleich klar und starre aus dem Fenster.
„Essen wäre jetzt echt nicht schlecht", seufzt Lucia und ich kann den sehnsüchtigen Blick, den sie gerade wahrscheinlich in Richtung Küche wirft, fast spüren.
„Komm her, ich gebe dir was ab", sage ich grinsend und lese noch einmal den Zettel durch, der an der Tür klebt, mit allen Essenszeiten und Angeboten und so weiter.
„Liebend gerne", meint Lucia, „Ich bin in zehn Stunden in Salt Lake City. Holst du mich ab?"
„Nee, du darfst auch trampen", grinse ich.
„Bitte nicht. Ach, sag mal. Wie war die Frau so? Ich wurde ja sofort weggedrückt, nachdem du eingestiegen bist", sagt Lucia mit einem stillen, scherzhaften Vorwurf.
„Es wäre absolut unhöflich gewesen, einfach weiterzutelefonieren! Später war sie dann aber auch ziemlich still und ich hatte ganz viel Zeit, um mich davon zu überzeugen, dass Gedanken an Pentatonix oder Leon nicht beißen. Ich hab schon angefangen, nachzudenken, aber dann waren wir da und ich musste das neue Video von Superfruit anschauen. Das wirst du nicht glauben, sie haben ein Lied rausgebracht! Ein. Lied. Und es ist so unglaublich toll, ich muss dir den Link schicken", erzähle ich begeistert und lasse mich auf den Boden sinken.
„Warte. Du hast nicht gesagt, dass sie süß sind. Sag, dass sie süß sind! Wobei... Lass es lieber, gerade bist du ja erstaunlich normal ihnen gegenüber. Wahrscheinlich ist das gar nicht so schlecht. Immerhin kannst du sie schon wieder angucken, ohne abbrechen zu wollen", stellt Lucia zufrieden fest.
„Ja, und daran bist allein du schuld, du große, heilige, wundervolle Lucia", meine ich lachend, übergehe ihre ersten Sätze und verabschiede mich dann, weil ich wirklich, wirklich Hunger habe.
„Tu mir einen Gefallen und denke darüber noch weiter nach, okay? Also, über Pentatonix. Ich glaube, dass dir das helfen könnte", sagt meine beste Freundin schnell, bevor ich auflegen kann.
Ich nicke langsam und schüttele dann abwehrend den Kopf, als sich schlechte Gedanken in meinen Kopf schleichen.
Irgendwann sollte ich wirklich damit anfangen, richtig darüber nachzudenken und in meinem Gehirn alles zu sortieren, davor kann ich nicht wegrennen. Und dieser Moment ist jetzt gekommen.

Ich sitze vor einer Schüssel Suppe und atme ein letztes Mal tief durch.
Das kleine Restaurant vom Hotel ist noch fast leer und ich bin ungestört.
Bis Mitternacht habe ich Zeit, dann wird das Restaurant geschlossen und die Bar geöffnet, aber auf betrunkene Leute habe ich nicht wirklich Lust.
Also noch fünf Stunden, bis ich gehen muss. Das sollte reichen.
Kurz schließe ich die Augen und widme mich dem ersten Gedanken, der durch meinen Kopf schießt.

Leon.

Er muss seit dem Konzert in Frankfurt gewusst haben, wer ich bin.
Bestimmt hat er sich auch deswegen so komisch verhalten. Vielleicht waren die funkelnden Blicke nicht da, weil er sich auf einen Anschlag gefreut hat. Auf seinen Anschlag. Vielleicht hat er sich so umgesehen, weil er seine Tochter zum ersten Mal seit Jahren wiedergesehen hat und sie doch nicht direkt anschauen konnte.
Ist das logisch?
Ich kann nicht so persönlich denken. Mein Gehirn ist fest davon überzeugt, dass ich keinen anderen Vater habe als meinen Dad. Der mich verraten hat, geschlagen, der versucht hat, mich zu erschießen.

Dad.

Wie lange er den Anschlag wohl schon geplant hatte?
Ob er mich von Anfang an im Visier hatte?
Wie konnte ich übersehen, wer er wirklich ist?
Wie konnte er es wagen, damals einfach so zu verschwinden, nachdem meine Mutter gestorben war und ich ihn mehr brauchte als jemals zuvor?
Wieso hat er sich ausgerechnet das Konzert von Pentatonix ausgewählt, wieso hat ihn niemand davon abgehalten?
Seit wann kann er so grausame Taten begehen, ohne mit der Wimper zu zucken?

Die Tatsache, dass ich auf keine dieser Fragen eine Antwort finden kann, bringt mir pochende Kopfschmerzen ein. Nur eins weiß ich sicher: Er muss den Anschlag geplant haben, mit akribischer Genauigkeit. Wenn jemand von dem geheimen Raum wissen konnte, dann er, auch wenn mir das nahezu unmöglich scheint. Und nur er hätte daran gedacht, dass Menschen Fluchttiere sind und bei einem Anschlag aus der Halle rennen. Nur er hätte gewusst, dass er viel mehr Menschen umbringen kann, wenn er draußen auch Bewaffnete hat, die die Fliehenden erschießen.

Obwohl ich mich nur vage an meine ersten Lebensjahre erinnern kann, in denen er fast immer an meiner Seite war, höre ich sein ungläubiges Lachen noch genau, immer wenn er sich gefragt hat, wie Menschen so dumm sein können und nach draußen rennen, ohne zu wissen, dass genau das ihr Verderben sein könnte.

Jedenfalls glaube ich, dass es ein ungläubiges Lachen war.
Je länger ich darüber nachdenke, desto hämischer wird es.

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