41. Kapitel

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„Wie geht es Avi?", entgegne ich, statt zu antworten.
Kevin seufzt und schiebt mich um die Ecke, bringt mich weg von der Innenstadt in einen der Parks am Stadtrand.
Ein Glück, dass die meisten Hallen sowieso schon abseits liegen.
„Den Umständen entsprechend, nehme ich an. Ihm ist so was noch nie passiert", antwortet Kevin.
„Mir auch nicht", murmele ich und bereue im selben Moment, dass ich eben nur an mich gedacht habe. Avi ist derjenige, um den ich mir Sorgen machen sollte.
„Haben dich irgendwelche Leute beleidigt oder so?", fragt Kevin.
„Ich habe mir nur die Tweets durchgelesen, da war nichts", antworte ich, als die Angst in mir wieder aufkeimt. Sie können mir Privatnachrichten geschickt haben.
„Avi bekommt beim Lesen gerade mentale Unterstützung von den anderen", erklärt Kevin, setzt sich auf eine der Bänke im Park und wartet gar nicht erst auf eine Reaktion von mir.
Er weiß wahrscheinlich, dass ich nur protestieren würde.
Wortlos hält er mir also sein Handy hin, und ich logge mich schweigend auf Twitter ein.
„Willst du selbst schauen?", fragt er, in einem Tonfall, der mich beruhigt und gleichzeitig in die Realität zurückbringt.
Ich muss keine Angst davor haben, was mir Fremde geschickt haben.
„Niemand weiß, was wirklich passiert ist. Du bist nicht mit Avi zusammen, Amari, auch wenn sie das behaupten. Weißt du, wieso die meisten Menschen etwas behaupten? Gerüchte verbreiten?"
Ich schüttele den Kopf.
Früher hätte ich das selbst gemacht.
Früher hätte ich selbst Gerüchte verbreitet, über Pentatonix, über Scömìche.


Aber jetzt kann ich es nicht mehr nachvollziehen.
„Weil sie es wollen", lächelt Kevin sanft.
Ich starre immer noch das Handy an, den obersten Tweet, der natürlich auf das gestrige Ereignis anspielt, und als ich Kevins Worte höre, spüre ich einen Funken Hoffnung in mir.
Es ist kein Weltuntergang, auch wenn ich unsanft in die Öffentlichkeit gezerrt wurde, auch wenn ich das hier nie wollte, auch wenn ich Avi in eine so ungünstige Situation gebracht habe.
„Und die Bilder von euch sehen wirklich süß aus", legt Kevin nach, als ich nicht reagiere, und dieser Satz bringt mich dann doch zum Grinsen.
So etwas von ihm zu hören ist komisch.
„Ich schaue selbst", meine ich mit einer neuen Portion Selbstbewusstsein, und drücke auf meine Nachrichten.

Behandele unseren Liebling gut!!

„Das ist normal. Hätte mich gewundert, wenn das nicht gekommen wäre", sagt Kevin, „Und glaub mir, du behandelst uns alle mehr als gut. Vor allem Avi. Du hättest ihn nach Frankfurt sehen sollen."
Ich denke an das Video, was mich so ängstlich gemacht hat, so wachsam.
„Ich habe dein Video gesehen", fange ich an, will weiter reden, doch Kevin nickt, so bedeutungsschwer, dass ich verstumme.
Es ist etwas ganz anderes, ihn besorgt auf dem Bildschirm zu sehen, als neben ihm zu sitzen und alles so genau zu fühlen.
„Es ist nicht nur der Anschlag, der auf ihm lastet", murmelt Kevin, es ist beinahe nur ein Hauchen vom Wind, welches zufällig Worte formt.
Und doch bringt es mich dazu, in Tränen auszubrechen.
Ich bin überfordert.
Mit Pentatonix, mit dem Anschlag, mit meinem Vater, mit dem hier.
Ich war nie diejenige, die stabil war.
Vielleicht war mein größtes Problem, das einzusehen.
Mein Talent ist nicht die Fotografie, sondern die Kunst, mich von meinem innerlichen Wrack abzulenken.


Kevin schweigt, als ich so zusammenbreche, und nimmt mich einfach in den Arm.
Eine Geste, die mich so schmerzlich an Avi erinnert, dass ich immer weiter weine, minutenlang, bis die Tränen versiegen und ich mich mit Schmerzen wieder aufrichte.
Aber diesmal ist es nicht nur mein Kopf, der weh tut - diesmal ist es vor allem mein Herz.


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