Nahaufnahme

14. Kapitel

27.10.2016, 11:54 Uhr, Rosemont, USA
„Meine Dummheit hat mir mehr oder weniger das Leben gerettet", erzähle ich Lucia wenige Stunden später.
„Kannst du mich mal aufklären?", fragt sie.
„Irgendwann musst du es doch verstehen! Ich erkläre das seit zehn Minuten!", beschwere ich mich.
„Eigentlich sind es zwei. Aber du redest in einem Tempo, das macht mich noch wahnsinnig! Außerdem hängt sich mein Handy gerade dauernd auf", schmollt Lucia.
„Okay. Also: Ich habe im Hotel auf den Zettel geschaut, wann ich fliege, und dachte, dass es um 7:05 Uhr ist. Dann bin ich in einer irre Geschwindigkeit zum Flughafen gefahren worden – ehrlich, ich hatte Angst um mein Leben, so schnell ist der gerast – und habe nach meinem Flug gesucht, bis ich rausgefunden habe, dass der erst um 8:05 Uhr geht und ich noch eine Stunde Zeit habe. Hätte ich gewusst, dass er erst später ist, hätte ich mir wahrscheinlich Zeit gelassen und ihn verpasst. Kapiert?"
„Jetzt schon", sagt meine beste Freundin langsam.
„Aber?", frage ich.
„Aber dafür musstest du wirklich dein Leben riskieren?"
„Ich hab schon das Konzert gestern verpasst, das kann ich doch nicht nochmal machen. Außerdem hätte ich dann alles über den Haufen werfen und neu planen müssen", seufze ich.
„Hast du heute Abend dann wenigstens ein VIP-Ticket?", fragt Lucia.
Ich stehe vom Bett auf und versuche einhändig, in meinem Koffer den Plan zu finden.
„Ich hab ihn!", rufe ich eine Minute später begeistert und werfe mich wieder auf das Bett, um anständig nach dem heutigen Datum suchen zu können.
„Und?", fragt Lucia hoffnungsvoll.
„Nein", antworte ich ein wenig zerknirscht.
Dabei hatte ich mich so gefreut, sie wieder zu sehen.
„Dafür habe ich beim nächsten Konzert VIP III", grinse ich.
„Das heißt?"
„Meet & Greet, Private Performance, Soundcheck,... Soll ich weitermachen?", zähle ich auf.
„Musst du nicht. Ich kann mir vorstellen, was das ist", lacht Lucia.
„Ich wüsste nicht, wie ich ohne die VIP-Tickets überleben sollte. Das hier ist unglaublich stressig, glaub mir. Wenn ich nicht ab und an mit Pentatonix reden könnte, wäre meine Motivation wahrscheinlich schon den Bach runter. Danke übrigens für die ganzen Tabletten, die du mir eingepackt hast. Ich glaube, ich brauche bald neue", seufze ich.
„Kann ich mir vorstellen. Aber das kommt eben davon, wenn man seine beste Freundin über zwei Monate im Stich lässt", beschwert sich Lucia.
„Hast du nicht irgendwann Ferien? Dann kannst du ja mitkommen", schlage ich vor.
„Als ob es noch für irgendein Konzert Karten gibt", meint sie skeptisch.
„Bis dahin haben sie sich alle so sehr in mich verliebt, dass sie mir jeden Wunsch von den Augen ablesen und die Karten nur so hinterherwerfen, wenn ich frage", sage ich ironisch.
„Sei mal ein bisschen optimistischer! So wird das garantiert nie was. Auch wenn ich glaube, dass sie sich durchaus in dich verlieben könnten, so verrückt wie sie sind", lacht Lucia.
„Ich bin überhaupt nicht verrückt!", beschwere ich mich.
„Und ich bin ein Einhorn", meint Lucia trocken.
„Das stimmt gar nicht!", rufe ich.
„Wie gesagt: Und ich bin ein Einhorn", sagt sie.
„Pah. Ich muss jetzt los, noch Fotos machen. Ich habe zwar keine Ahnung, wo ich bin und wovon man hier Fotos machen kann, aber..."
„Aber du willst mich loswerden, ich verstehe schon. Viel Spaß", lacht meine beste Freundin.
„Das stimmt auch nicht!", protestiere ich und will gerade anfangen, zu diskutieren, als sie auflegt.
Soll sie doch machen.
Ich gehe jetzt raus und fotografiere Sachen.
Vielleicht finde ich ja was Schönes. Oder die Halle, in der Pentatonix später auftreten. Das wäre auch ganz praktisch.
Dann könnte ich auch direkt dableiben und in die erste Reihe kommen, weil ich die Erste überhaupt an der Halle war.
Klingt nach einem guten Plan.
Mit einem Grinsen packe ich die Konzertkarte, Geld, etwas zu trinken und meine Kamera ein und gehe aus dem Hotel.
Zwar habe ich keine Ahnung, wo die Halle ist, aber dank meinem großartigen Orientierungssinn werde ich mich schon dorthin verlaufen.