43. Kapitel

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Als ich abends im Bett liege, ist es zum ersten Mal an diesem Tag wirklich ruhig, nur Scotts Atem durchbricht die Stille.
Aber anders als an anderen Tagen fliegt kein Kissen von Mitch auf das Gesicht des Baritons.
Vielleicht schläft er schon, oder er traut sich einfach nicht, ein Geräusch von sich zu geben.


Wahrscheinlich geht es allen so: Sie haben Angst davor, unser Schweigen zu unterbrechen.
Scott und Mitch haben es vorhin immerhin versucht, sie wollten mich aufmuntern, und für einen kleinen Augenblick hat es auch funktioniert, aber sie haben nur an der Oberfläche gekratzt, nicht dieses schwarze Gefühl in mir gelöscht.
Die Stille im Bus könnte beinahe gespenstisch sein, doch sie wird von den Stimmen in meinem Kopf gefüllt.
Bis jetzt war es so einfach, ich bin leichtfüßig durch die Städte gezogen, zu den Konzerten gegangen.
Vielleicht bin ich abgehoben, als Phips mich mit in den Backstagebereich genommen hat, vielleicht bin ich zu hoch geflogen, und jetzt so hart auf dem Boden aufgekommen, dass sich eine Ohnmacht um mich gelegt hat.
Anders kann ich mir meine äußere Ruhe nicht erklären.
Der Aufprall mag meine Glieder gelähmt haben, aber mein Inneres hat er nicht zum Schweigen gebracht.
Im Gegenteil, er hat den Schwall an Stimmen erst losgerissen.
Avi bewegt sich, und das Rascheln der Decke durchbricht die Stille fast höhnisch. Als würde es sagen wollen, dass wir uns nicht ewig anschweigen können.


Bis jetzt hat es funktioniert.


Bis jetzt hat er mich erfolgreich vermieden.


Die Tränen fließen lautlos, niemand wird sie bemerken, nur in mich brennen sie sich hinein.
Es ist meine Schuld, nicht wahr?
Ich habe versucht, sie zu retten, und bin dabei ohnmächtig geworden, ich bin es, die die Antworten haben will.
Avi bewegt sich noch ein Stückchen weiter.
Ich schließe die Augen, stelle mich schlafend, wie wahrscheinlich jeder andere hier drin.
Abgesehen von Scott, der einen beneidenswert festen Schlaf hat.
Niemand sagt ein Wort, als der Bass schließlich ganz aus seinem winzigen Bett kriecht und in den vorderen Busteil geht.
Ich könnte ihm hinterher gehen, meine Chance nutzen, endlich in Ruhe mit ihm reden zu können.
Aber er wird seine Gründe haben, sich leise wegzuschleichen, nicht wahr?


Einige quälend lange Minuten wäge ich meine Möglichkeiten ab, bis ich mich dazu durchringe, ebenfalls aufzustehen.
An Schlaf ist jetzt sowieso nicht zu denken, die Stimmen in meinem Kopf würden nicht zulassen, dass ich Ruhe finde.
Avi muss die Bustür so lautlos wie nur irgend möglich geöffnet haben, und kühle Nachtluft umspielt meinen Körper, kaum dass ich den dicken Vorhang hinter mir zuziehe.
Die anderen sollen nicht in ihrem Schlaf gestört werden, wenn sie denn schlafen können.
Fröstelnd bemerke ich, dass ich nichts anderes trage als ein dünnes Nachthemd, doch ich bin zu aufgewühlt, um jetzt umzukehren.
Langsam und bedacht gehe ich die Treppenstufen nach unten, eine nach der anderen.
Mein Fuß pulsiert ein wenig, als würde er mich an die Quelle allen Übels erinnern wollen, als ich ihn auf den Asphalt des Parkplatzes setze.
Avis Silhouette zeichnet sich klar, beinahe scharfkantig, vor der Halle ab.
Noch hat er mich nicht bemerkt, noch läuft er auf und ab, sichtlich unruhig.
Vorsichtig lasse ich mich auf die Treppe hinter mir sinken und schlinge die Arme um meinen Körper, um meine Wärme daran zu hindern, in die Nachtluft zu fliehen.


Und dann sieht er mich.
Ich kann seinen Blick spüren, wie er auf mir liegt, er weiß sofort, wer ich bin, er weiß sofort, dass ich nicht wieder gehen werde.
Er kommt auf mich zu, wortlos, geht an mir vorbei, verschwindet im Bus.
Ich schließe die Augen.
Wie eine Fessel legt es sich um mich, hindert mein Herz am Schlagen.
Ich fühle mich gehasst, abgestoßen.
Von meinem Dad, meinem Vater und all den anderen, die mich in meinem Leben verlassen haben.


Jetzt gehört wohl auch Avi dazu.

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