31. Kapitel

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„Was für ein Lied war das?", frage ich leise, nachdem wir wieder für eine Weile geschwiegen haben.
„Ich weiß es noch nicht", meint Avi nachdenklich.
Dann lächelt er mich an.
„Vielleicht finden wir es gleichzeitig raus", sagt er.
Verwirrt schaue ich ihn an. Wir sollen gleichzeitig herausfinden, was für ein Lied das war? Wie stellt er sich das vor? Ich werde nämlich garantiert nicht singen.
„Willst du nicht wissen, was mit dir ist?", fragt er schmunzelnd, als er meinen Gesichtsausdruck sieht.
Oh.
„Doch, klar", antworte ich, während mein Kopf versucht, die Bedeutung hinter seinen Worten zu verstehen.
Vielleicht finden wir es gleichzeitig raus.
Bedeutet das, dass er mich öfters sehen will? Dass ich nicht nach ein paar Tagen wieder abgeschoben werde?
Sich selbst zu finden braucht eine Weile.
Eine Weile, in der Avi mich anscheinend nicht alleine durch die Welt ziehen lassen will.
Lächelnd beobachte ich die Natur um uns herum.
Ich verstehe, wieso Avi das hier regelmäßig braucht - ich habe mich seit Langem nicht mehr so glücklich gefühlt.


Einige Minuten laufen wir schweigend nebeneinander her, aber die herrschende Stille ist keineswegs unangenehm.
Doch irgendwann dringt der Lärm der Straßen wieder zu uns durch.
Mit einem leisen Seufzen bleibe ich stehen.
Avi dreht sich zu mir und schmunzelt.
„So geht es mir auch jedes Mal, wenn ich die Stadt wieder höre", sagt er leise und wirft einen Blick zurück auf den Weg, den wir gekommen sind.
„Jedes Mal?", frage ich.
„Jeden Abend", erklärt Avi.
Damit wäre auch geklärt, wieso er immer so ausgeglichen und ruhig aussieht.
„Das ist das erste Mal, dass ich nicht alleine gegangen bin", meint er dann.
„Ich fühle mich geehrt", lächele ich und meine es wirklich so - auch wenn ich nicht glauben kann, dass der Basssänger meine Gesellschaft der seiner Bandkollegen vorzieht.
Vielleicht hat er gespürt, dass ich es brauche.
Oder er wollte wirklich nur wissen, wer ich bin.
„Wie geht es dir?", fragt er leise.
„Ich bin total überfordert", lache ich, weil ich nicht weiß, was ich antworten soll.
„Verständlich", schmunzelt Avi, auch wenn ich meine, dass er nicht ganz zufrieden mit meiner Aussage ist.
Aber wie soll ich ihm sagen, wie es mir geht, wenn ich es selbst nicht so genau weiß?
Wieder verstreicht etwas Zeit, bis ich meine Jacke enger um mich schlinge, weil die Kälte sich langsam bemerkbar macht.
„Gehen wir?", fragt Avi, der mich zwar nicht ansieht, aber wohl trotzdem weiß, was ich gerade gedacht habe.
Ich nicke gähnend.
„Auf wie vielen Konzerten von uns warst du?", erkundigt sich der Sänger nach ein paar Metern.
„Auf zu vielen", lächele ich, „Ich tippe auf fünfzehn."


Und dann hoffe ich, dass er nicht fragt, weshalb.
Weil ich die Antwort darauf selbst nicht genau kenne.
Doch Avi denkt gar nicht daran, nachzufragen.
„Danke", sagt er.
Ich lächele etwas zittrig und atme tief durch.
Auch wenn ich vorhin vielleicht etwas impulsiv und unüberlegt geantwortet habe, als ich meinte, dass ich überfordert bin - es ist die pure Wahrheit.


Ich habe einen weiteren Anschlag überlebt und zum ersten Mal überhaupt Menschen gerettet.
Nicht irgendwelche Menschen - Pentatonix.
Ich lag mit einem schweren Schock im Krankenhaus, weil es mein Dad war, der mich bedroht hat, womit ich überhaupt nicht klarkomme.
Ich habe beschlossen, mit dem Geld meiner verstorbenen Mutter eine Weltreise zu machen, um Antworten zu bekommen, doch es wurden nur noch mehr Fragen aufgeworfen.
Mein richtiger Vater ist aufgetaucht, wie aus dem Nichts, genau in dem Moment, in dem Pentatonix mich erkannt hat.


Und jetzt laufe ich Seite an Seite mit meinem Lieblingsbasssänger durch die Stadt und merke ausgerechnet jetzt, dass ich nicht so stark bin, wie ich bisher dachte.
Dass auch ich meine Grenzen habe.


Ich drehe meinen Kopf zur Seite, beobachte den Wald, nur damit er die heißen Tränen nicht sehen kann, die über mein Gesicht laufen.
Und doch reicht er mir wortlos ein Taschentuch und legt mir seinen Arm um die Schultern.


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