6. Kapitel

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Meine dicke Jacke trage ich schon längst über dem Arm, auch wenn es nicht glühend heiß, sondern eher angenehm kühl ist.
Mit langsamen Schritten gehe ich durch die Innenstadt, weiß genau, was ich suche, was ich will.

Heute ist der 21.10.2016.

In zwei Monaten und drei Tagen ist Weihnachten.

Und doch bekomme ich heute wahrscheinlich das beste Geschenk dieses Jahr, wenn man mal von dieser Weltreise absieht: Das Weihnachtsalbum von Pentatonix hat sich seinen Weg in die Wildnis gebahnt und ist jetzt weltweit im Handel.
Genau deswegen habe ich mir um neun Uhr morgens einen Kaffee geholt und bin, ohne Frühstück, losgegangen, um es zu finden.
Dass ich bis jetzt noch nicht viel Erfolg habe, ist mir relativ egal, ich habe ja alle Zeit der Welt, und zum ersten Mal seit Wochen bin ich wieder wirklich gut gelaunt. Die Gedanken sind bis jetzt noch nicht zurückgekehrt, weshalb ich mich unglaublich leicht und befreit fühle.
Mein Gehirn hat Pentatonix von der Kategorie „Stars/Berühmt/Aaaah" in „Tolle Leute/Bekannte/Freunde" verschoben und gaukelt mir zwischendurch vor, dass ich sie besser kenne, als ich glaube.

Mit einem Lächeln auf den Lippen werfe ich den inzwischen leeren Kaffeebecher in einen Mülleimer und überquere die Straße, um mein Glück in einem weiteren Laden zu versuchen.
In dem Neonlicht krame ich bei allen möglichen Musikrichtungen, bis ich fast schon aufgeben und gehen will.
Als ich jedoch meinen Kopf, zugegebenermaßen ohne viel Hoffnung, noch mal um die Ecke stecke und schaue, was es auf der anderen Seite vom Regal alles gibt, sticht mir ein weiß-goldenes CD-Cover ins Auge. A Pentatonix Christmas.
In großen Buchstaben steht „Christmas" über dem Regal und innerlich haue ich mir gegen die Stirn, weil ich wirklich so blöd war.
Wenigstens habe ich es überhaupt gefunden.

Im Hintergrund läuft Hallelujah, auf Spotify, weil ich natürlich nicht bedacht habe, dass ich keine Möglichkeit habe, die CD abzuspielen.
Mit kritischem Blick bedenke ich mein Spiegelbild, dann schaue ich wieder zu meinen Klamotten, die ich auf dem Bett großzügig ausgebreitet habe.
Es fühlt sich falsch an, so lange überlegen zu müssen.
Sie kennen mich doch.
Seufzend schäle ich mich aus meinem engen Oberteil und der weiten, schwarzen Hose und schnappe mir stattdessen einen dünnen, gestreiften Pullover, den ich eigentlich nur zuhause trage, weil er so gemütlich ist.
Normalerweise macht es mir etwas aus, was die Leute von mir denken.
Aber ich gehe zu Pentatonix.
Die anderen, die dort sein werden, werden mich doch eh nicht beachten.
Pentatonix vielleicht auch nicht.
Und deswegen muss ich mir doch überhaupt keine Gedanken machen, oder?
Die Jogginghose betrachte ich nur kurz, das scheint mir dann doch zu extrem. Trotzdem ziehe ich nur eine Jeans an, hänge mir meine gepackte Tasche über die Schulter und verlasse das Hotelzimmer, nachdem ich die Musik ausgestellt und mein Handy ebenfalls eingepackt habe.
Zum ersten Mal bin ich auf dem Weg zu einem Konzert mehr entspannt als aufgeregt, und ich kann nur den Kopf darüber schütteln, wie durchgedreht ich früher immer war.
Sie sind doch auch nur Menschen.
Warum ich dafür erst einige Schocks haben, meinen richtigen Vater finden und dabei zuhören musste, wie Avi seinen Mitsängern erläutert, wer ich bin, weiß ich allerdings auch nicht so genau.

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