45. Kapitel

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Es dämmert bereits, als wir uns auf den Rückweg machen.
Inzwischen bin ich heiser, weil wir so lange miteinander gesprochen haben, und die Nacht sich dabei kühl in unsere Stimmen geschlichen hat.
„Esther wird mich umbringen, wenn du morgen Abend nicht singen kannst", sage ich leise, nachdem ich mich mehrmals geräuspert habe, um meine Stimme wiederzufinden.
„Dafür muss sie erst mal an mir vorbei", grinst Avi und drückt meine Hand.
Obwohl wir beide unglaublich müde sind, wirkt er so, als würde er zum ersten Mal seit Frankfurt wieder richtig aufleben.
Seine Augen, die ich schon vor dieser Nacht für so leuchtend gehalten habe, strahlen in hellem, frischen Grün, er sieht so viel gesünder aus.
„Lass uns Frühstück holen gehen", schlage ich vor, und Avi protestiert nicht, obwohl wir beide kurz an uns herunter schauen und unsere Outfits begutachten.
Wir sind definitiv nicht für einen kurzen Umweg zum Bäcker angezogen, aber das interessiert mich herzlich wenig.

„Ich werde diesem Bäcker nie wieder normal in die Augen schauen können", pruste ich los, als wir vollgepackt den kleinen Laden verlassen.
„Musst du auch nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass du ihm nochmal begegnest, ist gleich Null", grinst Avi.
„Ich würde jetzt ja wirklich mit irgendeiner Lebensweisheit ankommen, aber ich bin viel zu müde dafür", sage ich und gähne gleich darauf wie zur Bestätigung.
„Ich habe übrigens rausgefunden, was für ein Lied das war, welches ich neulich gesungen habe", meint der Basssänger plötzlich.
Erwartungsvoll, etwas ängstlich, weil er auf einmal wieder so ernst ist, blicke ich ihn an.
„Mein eigenes."
Einige Sekunden lang bin ich wie erstarrt, versuche, den Sinn dahinter anders zu deuten, aber es funktioniert nicht.
Es funktioniert nicht, weil er es in einem Tonfall gesagt hat, der keine andere Deutung zulässt.
Avi schreibt seine eigene Musik.
Musik, die nicht mehr zu Pentatonix gehört.
„Du fliehst nicht vor dem hier, oder?", frage ich dann, auf einmal wieder heiser.
Avi Kaplan, mein Idol, einer meiner Lieblingssänger, eine der Personen, die Pentatonix verkörpert, hat ein eigenes Lied geschrieben.
„Natürlich nicht", beantworte ich mir meine Frage selbst, denn die Antwort scheint auf einmal so offensichtlich.
„Ich liebe unsere Fans, und ich liebe die anderen, aber... ich liebe das hier nicht mehr. Es macht mich kaputt", sagt er, seine Stimme bricht, er schaut von mir weg.
Bis ich seine Hand drücke und ihn vorsichtig anlächele.
„Denke jetzt nicht, dass ich dich dafür verurteilen werde", sage ich, mein Tonfall stärker, ernster als ich erwartet hätte.
Vielleicht bin ich inzwischen abgestumpft, vielleicht habe ich die Grenze an Gefühlen, die man innerhalb so kurzer Zeit erfahren kann, schon längst übertreten, vielleicht tut es deswegen nicht so sehr weh, wie es eigentlich weh tun sollte.
Eine Zeit lang schweigen wir, bis die Halle in Sicht kommt, und wir nicht mehr stumm sein können.
„Du wirst es ihnen sagen, wenn du so weit bist, nicht wahr?", frage ich, und jetzt spüre ich den Schmerz, er reißt mich zurück in das schwarze Loch, welches Avi in dieser Nacht so sorgsam aus mir entfernt hat, raubt mir den Atem.
„Ja", sagt er nur, er weicht nicht aus, weiß wahrscheinlich selber, dass es nicht anders geht.

Esther steht in der Küche, eine Tasse Kaffee in der Hand, als wir uns wieder in den Bus schleichen.
„Legt euch ruhig hinten hin, ich passe auf, dass Scömìche nicht durchdreht", meint sie leise, bevor sie uns die Tüten abnimmt.
Sie fragt nicht, wo wir waren, seit wann wir weg waren, ob alles wieder gut ist.
Aber das heißt nicht, dass sie das nicht wissen kann.
Esther ist so unglaublich gut darin, Menschen zu lesen.

Wir schleichen uns an den anderen vorbei, die noch tief und fest schlafen, und legen uns in den hinteren Busteil, den man ebenfalls mit einem Vorhang abtrennen kann.
Ich merke nicht mehr, wie Avi sich neben mich legt, wie er unsere Decken holt und mich zudeckt.
Ich schlafe einfach ein, vollkommen überfordert von den Geschehnissen der letzten Tage.


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