Kapitel 57

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Chris griff in seine Hosentasche um die Haustür aufzuschließen. Doch er hatte den Schlüssel in aller Eile in seiner Wohnung liegen lassen! "Fuck", fluchte er halblaut vor sich hin. Victoria schaute ihn mitleidig an, ehe sie ihn zur Seite schob. Geübt, wie schon einige Stunden zuvor öffnete sie erst die Haustüre, dann ohne lange nachzudenken auch die Wohnungstür. Chris schaute sie beeindruckt an. 

Als sie sich etwas sortiert hatten, fragte er sie:"Wo möchtest du schlafen?" Sie sah sich suchend um. Eigentlich wollte sie auf die Couch. Es war ihre Schlafecke. Er nickte wissend und lief zum Kissenberg. Ordentlich machte er ihr die Couch zurecht. Auch sein Telefon tauchte wieder auf, noch immer kaputt. "Der Grund für die Chaoskommunikation", brummelte er. Sie stand hinter ihm:"Warum?" Rasch erzählte er ihr vom Telefon und warum der arme Pikachu fliegen lernte. 

Victoria war müde, so unermesslich müde. Es war halb drei in der Nacht und sie ausgelaugt. Doch etwas lies sie nicht zur Ruhe kommen. "Woher kanntest du diese Herren, Chris", fragte sie bohrend nach.  Er schaute sie an. "Muß ich drauf antworten", fragte er völlig fertig. Bissig antwortete sie:"Nö , eine Lüge genügt.Hast ja Übung." Er zuckte zusammen. 

Er nickte. "Ich koch Kaffee, willst du was essen?" "So ein Marmeladenbrot wäre cool und Kaffee auch", antwortete sie lädiert. Sie schob die Bettdecke zurück, damit sie genug Platz zum Sitzen auf der Couch hatten. 

Während Chris die Vorbereitungen abschloss, gruselte es ihn. Er hatte ganz bewusst seine Familie nie erwähnt gehabt. Zu grausam waren die Erinnerungen. Doch was bitte hatte er noch zu verlieren? Prinzessin? Er wußte nicht einmal, ob sie wirklich zusammen waren oder ob sie ihn auch nur mochte. Trotzdem vertraute er ihr Dinge an, über die er sonst niemals, weder im Drogenrausch, noch im Suff sprach. 

Mittlerweile hatte sie ihre Jeans ausgezogen, ihr Nachthemd hatte sie schlicht als Shirt genommen gehabt. Somit war sie schnellstens bettfertig. 

Er kam mit einem Tablett wieder, das er auf den kleinen Wohnzimmertisch stellte. Warmherzig blickte er sie an. Eigentlich würde er sich jetzt neben sie setzen, aber nicht bei diesem Thema. Es brachte immer wieder unvorhersehbare Emotionen bei ihm durch, er mußte sicher gehen, sie nicht erneut zu verletzen. "Bin gleich da", rasch holte er einen Stuhl, den er zum Tisch stellte. 

Er griff sich seine Kaffeetasse und hielt sie fest, während Victoria eines der kleinen Brothäppchen naschte und einen großen Schluck Milchkaffee trank. Wie niedlich sie aussah. Schmerzhaft wurde ihm bewusst, daß er , auch wenn er es keinesfalls wollte, ihr wahrscheinlich erneut weh tun würde. Traurig schaute er auf die schwarze Flüssigkeit in seiner Tasse. Es half alles nichts, er würde ihr die ungeschminkte Wahrheit sagen. 

"Carsten ist mein Stiefvater", platzte er heraus. Victoria verschluckte sich am Kaffee und hustete. Behutsam klopfte er ihr auf den Rücken. "Wie bitte", rief sie, als sie wieder zu Atem kam, "ach du Scheiße." Er lächelte gequält. Nachdenklich schaute sie ihn an, als spürte sie, daß da noch mehr dahinter steckte. "Erinnerst du dich an Larry Miles", fragte er schüchtern. Sie nickte:"Allzugut. Ein gewisser dunkler Engel kam mir zur Hilfe." Ein zartes Lächeln huschte über sein Gesicht.

"An diesem Abend waren Carsten und seine Leute auf der Jagd nach Frischfleisch." Unschlüssig sah sie ihn an."Sie stehen auf sehr, sehr junge Menschen", half er ihr auf die Sprünge. Sie riss entsetzt die Augen auf. Das konnte doch wohl nicht wahr sein!"Aber das macht keinen Sinn, ich bin volljährig." Chris nickte:"Du siehst, gerade an Tagen wie damals, oder heute, unglaublich kindlich aus." Sie hatte Mühe die Tasse unbeschadet auf das Tablett zu stellen. "Deshalb die vielen Anzeigen und die Rede vom Mob." Er nickte. Wenn es noch möglich gewesen wäre, wäre ihr noch elender, als es ihr eh schon war, geworden! 

Plötzlich drängte sich ihr eine viel entsetzlichere Frage auf. Sie wußte nicht wirklich , wie sie diese formulieren sollte, ohne ihm weh zu tun. Aber gut, ihre Diplomatie war ohnehin schon schlafen. "Chris", begann sie vorsichtig, "kam er dir auch zu nahe?" Er hatte mit der Frage schon gerechnet, trotzdem war er überrascht, wie behutsam sie diese formuliert hatte. Er schüttelte traurig den Kopf. Fast liebevoll begann er zu erzählen:"Carsten steht nicht auf Jungs. Nur Mädchen. Blutjunge Mädchen. Er hat mich nie irgendwie unsittlich berührt. Deshalb habe ich auch nie gegen ihn ausgesagt." 

Erinnerungen drängten an die Oberfläche seiner Seele. Bilder, so düster, daß er sie auf immer und ewig vergessen wollte. Niemals daran erinnert werden. Mit aller Kraft kämpfte er gegen diese Bilder, die einen unermessliche Qual waren. Doch sie wurden stärker, als hätten sie nur darauf gewartet endlich wieder  sein Bewusstsein zu treten. Zittrig legte er seine Arme um sich und begann heftig vor und zurück zu schaukeln. 

Victoria beobachtete ihn erschrocken. Was auch immer in ihm vorging, er stand kurz vor einer fürchterlichen Explosion! Innerlich wappnete sie sich, so gut sie in Anbetracht der Vorkommnisse noch konnte, auf einen fürchterlichen Krach mit ihm. Doch alle Vorbereitung zerfiel zu Staub, als Chris heiser flüsterte:"Ich wurde  missbraucht." Dann sackte er auf dem Stuhl in sich zusammen. 

Sie sprang auf und umarmte ihn augenblicklich. Es konnte, durfte, sollte nicht wahr sein! Nein! Nein, einfach nur Nein! Verdammt nochmal, warum taten Menschen das? Wieso hatte ihn niemand beschützt? Wo waren seine Eltern? So viele Fragen. Chris zitterte weinend in ihren Armen. Verzweifelte hielt er sich an ihr fest. Sie schwor sich, wenn ihr nochmal einer dieser Wixer über den Weg lief, würde sie ihnen die Eier zu Rührei zu kloppen! Behutsam streichelte sie über seine blonden Haare. Sie waren ungegelt und dem entsprechend babyhaarweich. Allmählich beruhigte er sich etwas und löste seine Umklammerung. Erschöpft angelte er nach einem Taschentuch. 

Sie blickte ihn zutiefst erschüttert an. Auch an ihm waren die letzten Stunden und besonders die letzten Minuten nicht spurlos vorbei gegangen. Er hing schlaff im Stuhl, nur mit Mühe konnte er sich auf ihm halten. Vorsichtig flösste sie ihm etwas Kaffee ein. Er sah sie aus leeren Augen an. Langsam rappelte er sich etwas auf. "Carsten hat alles versucht es zu verhindern, als er es rausbekommen hat", murmelte er, "aber sie meinte nur, es wäre gut für mich." Victoria zucke zusammen, als er sie sagte. Ein entsetzlicher Verdacht keimte in ihr auf. Inständig hoffte sie, daß ihre Fantasie mit ihr durchging, doch irgendwie, ahnte sie , daß das leider ein unerfüllbarer Traum bleiben würde. Chris hielt sich krampfhaft an der Sitzfläche des Stuhls fest. 

"Komm, Chrissilein, es ist Nagelzeit", sprach er in einem eigentümlichen Singsang mit weiblicher Stimme. Ihr jagte es eiskalte Schauer über den Rücken. Plötzlich stoppte er und sprang auf, wie von Furien gehetzt rannte er ins Bad. Von dort hörte sie Würgegeräusche und kurz darauf die Toilettenspülung. Er kam wieder zurück.

Besorgt sah sie ihn an, er sah erbärmlich aus. Victoria hatte keine Ahnung, wie sie nun reagieren sollte. Doch Chris setzte sich erneut:"Sie hat dafür nur zwei Jahre Bewährung bekommen. Weil sie es ja so bedauert hat." Er lachte höhnisch auf. "Als hätte sie es je bedauert." Entsetzt entfuhr es Victoria:"Das kann doch wohl nicht wahr sein!" Chris setzte sich neben sie und drehte ihr Gesicht, daß sie ihn direkt ansehen mußte. Unerbittlich antwortete:"Doch!" Sie sackte regelrecht zusammen. Es war ihr einfach unbegreiflich, wie unermesslich bösartig solche Menschen sein konnten! Leise presste sie zwischen den Zähnen hervor:"Wie alt warst du?" Chris blickte sie abgebrüht an:"Prinzessin, die Antwort wird dir nicht gefallen." In einem Anflug von schützendem Sarkasmus antworte sie:" Es gab heute, gestern, ach irgendwie in dem Zeitfenster genug Dinge, die mir nicht gefallen haben." 

"Ich weiß von einer Sache, da war ich vier. Vermutlich war es jedoch früher. Mit acht bin ich in die WG gekommen. Carsten hat es eingefädelt. Offiziell, weil ich so rebellisch war." 

Victoria fiel plötzlich wie ein nasser Sack in sich zusammen. Sie reagierte nicht mehr auf sanftes Schütteln. Behutsam bracht er sie in die stabile Seitenlage und deckte sie zu. Sorgenvoll blickte er sie an. Er öffnete die Fenster in den Nähe und achtete darauf, daß nichts bei ihr war, daß ihr den Atem nahm. Ein paar Minuten später kam sie wieder zu sich. 

Chris saß im Schneidersitz ihr gegenüber und beobachtete sie genauestens. Sie fühlte sich, als hätte sie eine Achterbahnfahrt durch einen Mixer hinter sich. Gott, war ihr elend!So beschissen hatte sie sich nicht mal nach zwei Gläsern Rotwein und einem Likör gefühlt gehabt! "Wie geht es dir?" "Kurzschluss im Kopf, muss schlafen." Er nickte verständnisvoll" Soll ich einen Arzt rufen?" Sie schüttelte leicht den Kopf:"Schlafen." Es war halb vier in der Früh. Prinzessin sollte seit mehren Stunden süß träumen! Ruhig bestimmte er:"Dann gehen wir jetzt schlafen, ok?" Sie nickte erschöpft. Allmählich rappelte sie sich hoch. Leicht wackelig schlurfte sie die wenigen Schritte zur Couch. Glücklich sank sie in die Kissen. Liebevoll deckte er sie zu. Dann lief er zur Tür. Dort drehte er sich nochmal um:"Träum süß." Ein leises Säuseln war die Antwort. 

Chris kam gerade aus dem Bad, als er sie weinen hörte. Rasch lief er zu ihr. Sie wimmerte im Schlaf. Ohne lange nachzudenken holte er seine Decke und kuschelte sich zu ihr. "Ich bin hier, bei dir, Prinzessin", flüsterte er, während er sie an sich zog. Sie beruhigte sich und kurz darauf war auch er eingeschlafen. 

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