15. Nachwuchs

1.2K 89 67
                                    

ZÜMRA

„Denn wo einer kommt,
lässt ein andrer los
Denn neben dem Leben
steht auch immer der Tod
Hinter der Sonne
folgt auch immer der Mond
Egal was wir tun,
Karma ist groß
Wo einer trauert,
spendet auch einer Trost
Und wo einer fällt,
kommt ein anderer hoch
Wer Gutes tut,
wird auch mit Gutem belohnt
Auch nach dem Tod,
Karma ist groß."

Kontra K - Karma

„Es ist anders, dich nicht auf deinem Bike, sondern in einem Wagen zu sehen", lächelte Ibrahim traurig, nachdem er mir die Haustür öffnete. Stumm lächelte ich ihn an. Mehr konnte ich nicht machen.

Ich hatte vor meinem Umzug mein Bike verkauft – ich würde mich nach Bilals Unfall nicht mehr auf eins setzen, das würde ich meiner Familie nicht antun – und mir mit dem Geld einen Wagen gekauft. Meine Mütter waren ja alle prinzipiell gegen den Motorradführerschein gewesen, und jetzt waren sie nach der ganzen Sache ängstlicher. Außerdem war ein Auto für mich logischer, würde mich unabhängiger machen, wenn ich nach Hause fuhr.

„Es ist so komisch ohne ihn", flüsterte Fatih und alle im Raum verkrampften sich. Wir hatten uns alle bei den Zwillingen versammelt, um unseren Schmerz zu teilen. Nicht imstande irgendetwas zu sagen, legte ich mich mit einigen kleinen Bewegungen auf die Couch und ließ meinen Kopf auf Mirzas Schoß nieder. Stumm fuhr er mir durchs Haar, wickelte einige Male einige Locken um seinen Finger. Die Stille setzte uns zu – das kannten wir alle gar nicht.

Ich erinnerte mich an den Tod meines Großvaters. Er war der erste aus der Familie, dessen Tod ich mitbekommen hatte und irgendwie verarbeiten musste. Ich war damals 15.
Erinnerte mich an die Nacht, in der unser Haustelefon klingelte und mich aus meinem Schlaf riss. Nur um die Stimme meiner angeheirateten Tante zu hören, die mir mitteilte, dass er von uns gegangen war.

Niemand außer mir war in dieser Nacht wach geworden und während jeder schlief, war meine Psyche kaputter denn je.

Was hieß, er war tot? Ich hatte doch gar nicht die Möglichkeit gehabt, mich zu verabschieden?

Stumm war ich zu Bilal gelaufen, hatte mich auf seine leere Bettseite gesetzt und hatte lediglich gehofft, dass er irgendwann wach werden würde. Und tatsächlich hatte es nicht lange gedauert, denn er war keine fünf Minuten nach meiner Ankunft aufgewacht und hatte mich müde angelächelt. „Was ist los?", hatte er lediglich gefragt, doch diese Frage hatte bei mir alles durchbrennen lassen.

„Bilal, er ist weg", hatte ich nur gesagt, hatte meine Beine, die ich angewinkelt gegen meine Brust presste, enger umfasst und hatte mein Gesicht zwischen meinen Kniekehlen versteckt. Es hatte nicht lange gedauert bis mich seine kräftigen Arme umfassten. Wir verbrachten Stunden in dieser Position — irgendwann hatte er uns so weit nach hinten gezogen, dass wir uns an den Kopf des Bettes lehnen konnten.

„Es tut verdammt nochmal weh, zu wissen, dass er nicht singend oder rappend durch die Tür kommen wird und uns wieder motivieren wird", Halil zog mich wieder zurück in das Hier und Jetzt. „Oder dass er sich nicht auf Zümra schmeißen wird, um sie zu kitzeln", sprach Ibrahim, und schoss mir damit mitten ins Herz.

„Bilal, yapma! (Lass es!) Ich warne dich Freundchen", rief ich während ich ständig irgendwelche Gegenstände zwischen uns brachte, um ihn von mir fernzuhalten. Siegessicher lief er auf mich zu, drückte mich kurz – als würde er Frieden schließen – und kitzelte mich anschließend durch.

Einer unter vielen kleinen Momenten, in denen ich hilflos vor ihm wegrannte.
Das war früher ein tägliches Szenario, was ich erlebte. Es gab vermutlich nur wenige Tage in meinem Leben, in denen ich seinem Kitzeln nicht ausgesetzt war.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt