47. Gençer und Aysema

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ZÜMRA

„There is only one happiness in life — to love and to be loved."

George Sand

„Wie konntet ihr erlauben, dass Halil so etwas herzloses sagt?", rief mein Vater aufgebracht und sah zwischen Mirza, Fatih und Ibrahim hin und her, während Halil schuldbewusst im Nebenraum saß.

Mein Vater hatte mein Telefonat mit Azad zufällig mitbekommen, da er genau da auf dem Weg zu mir war, um mit mir über seinen Eindruck über Azad zu sprechen. Natürlich wollte er die Hintergründe des Telefonats wissen, wollte wissen, wieso ich mich für die Worte meines Milchbruders Halil entschuldigte, was er denn verbrochen hatte.
In meiner Verzweiflung hatte ich ihm alles erzählt, angefangen von der Sache mit Mevlüt, die inzwischen mehr als drei Jahre hinter uns lag, bis zu Azads heutigem Geständnis. Auch wenn es mir unangenehm war, meinem Vater zu erzählen, wie sehr mich dieser Junge überhaupt liebte — das hatte er schließlich auch gemerkt, denn kaum jemand würde sich trauen, sich dem Vater eines Mädchens zu stellen, und ihm zu sagen, dass man die Tochter kennenlernen und heiraten möchte — musste ich ihm all das erzählen, damit er merkte, wie verletzt Azad vermutlich sein musste. Keine Minute später hatte er die Jungs in unser Haus getrommelt und stellte sie nun zur Rede.

„Stellt euch mal vor, dass ihr euch alle in die gleiche Frau verliebt, das ist nämlich gar nicht so verwerflich, weil ihr alle denselben Geschmack und auch die gleichen Anforderungen habt", er blickte die Jungs mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Für wen hättet ihr euch entschieden? Für das Mädchen, dass euch gut tut? Oder doch lieber für euren Bruder, der euch in wirklich jeder verdammten aussichtslosen Situation zur Seite stand?", er schüttelte kräftig mit dem Kopf. „Nur weil ihr gerade in einer Zwickmühle gefangen seid, könnt ihr euer gegenüber nicht in diesem Maße verletzen!", dass mein Vater schrie, zeigte mir nochmal, wie sehr er Azad ins Herz geschlossen hatte. „Wenn jemand das Recht hat, Azad zu hassen, dann bin ich das, weil er meine Tochter leiden lassen hat", er schluckte hart, blickte kurz liebevoll in meine Augen. „Aber wenn selbst ich ihm verziehen habe, weil ich gemerkt habe, dass er sie vom ganzen Herzen liebt, dann habt ihr rein gar nichts zu melden!", ermahnte er die Jungs. „Baba", Fatih seufzte. „Nichts entschuldigt Halils Worte, nichts die Tatsache, dass der Junge nun ein verletztes Herz hat, Fatih, also spar dir deine Worte", mein Vater schüttelte seinen Kopf, drückte mir einen Kuss auf den Haaransatz und verließ das Wohnzimmer.

Inzwischen waren zwei Wochen seit Azads Kasselbesuch vergangen. Zwei Wochen, in denen ich meine Brüder mied, was eigentlich so gar nicht typisch für mich war.
Heute würde ich zurück nach Stuttgart fahren, da morgen Gençers Hochzeit anstand. Azad hatte meinen Vater vor einigen Tagen gefragt, ob ich ihn begleiten dürfte. Nach kurzem Zögern hatte mein Vater zugestimmt, hatte aber betont, dass er eher mich überreden müsste, weil ich Hochzeiten hasste.
So hatte Azad mich angerufen und hatte mir von seinem Plan erzählt — er wollte mich an seinem Leben teilhaben lassen, wollte mich so gut es ging, überallhin mitnehmen. Ich hatte geseufzt, und nur unter der Bedingung, dass ich jederzeit gehen durfte, sein Angebot angenommen.
Darauf hatte Azad wieder meinen Vater angerufen, um sich wirklich sicher zu gehen, dass er die Erlaubnis hatte. Lachend hatte mein Vater ihm versichert, dass er kein Problem damit hatte — obwohl sein Blick genau das Gegenteil widerspiegelte.

„Ich möchte nicht im Streit auseinandergehen", Halil blickte mich voller Verzweiflung an, als ich am späten Nachmittag meinen Wagen zusteuerte. Ich wusste zwar nicht, von welcher Ecke er gerade aufgetaucht war, aber es tat gut zu wissen, dass er seinen Fehler wieder gut machen wollte. „Ich habe riesengroße Scheiße gebaut, die nicht gerade zu biegen ist, das ist mir bewusst. Azad wird mich vermutlich sein Leben lang hassen, sich bei jedem Aufeinandertreffen an meine scheußlichen Worte erinnern, das ist mir auch bewusst", seine Augen füllten sich und er wendete seine Blicke reuevoll ab. „Aber du solltest wissen, dass ich es wirklich nicht so gemeint habe. Ich habe Azad in mein Herz geschlossen, ihn als einen Beuder akzeptiert, aber dass er dich fallenlassen hat, das hat mir zu schaffen gemacht. Ich habe aus Verletztheit gehandelt und büße jetzt dafür. Ich kann dir nicht sagen, dass du mir verzeihen sollst — das könnte ich nicht von dir erwarten, aber bitte wende dich nicht von mir ab. Du bist meine Schwester, mein Licht — ohne dich könnte ich kaum überleben. Ich habe ein Herz gebrochen, dass du liebst", er schüttelte fassungslos den Kopf. Nachdem er sich mit beiden Händen übers Gesicht fuhr, hob er seinen Blick und präsentierte mir seine roten, blutunterlaufenen Augen. Ohne länger nachzudenken schloss ich meinen Bruder in die Arme und bekam nur mit, wie sein Körper einige Male bebte. „Ich werde mit ihm sprechen", flüsterte ich ihm zu und fuhr über seinen Rücken, während er an meiner Schulter weinte.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt