Bonuskapitel 5 -Unausgesprochene Gefühle (Selim)

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SELIM

„Unexpressed emotions will never die. They are buried alive and will come forth later in uglier ways."
Sigmund Freud

Mit zusammengebissenen Zähnen schaute ich zu Hajdar und Mihriban, die sich lachend unterhielten. Die Eifersucht — ich hatte mir schon lange eingestanden, dass dieses Gefühl in meiner Magengrube kein anderes sein konnte — hatte wieder die Oberhand gewonnen und obwohl ich wusste, dass Hajdar nur ein Bruder in ihren Augen war, störte mich das Bild vor meinen Augen.
„Selim?", Mevlüts Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich versuchte mich zu lockern, während ich mein Gesicht zu ihm drehte. „Ich war in Gedanken, was gibt's?", fragend sah ich ihn an und spürte sogleich Azads prüfenden Blick auf mir — dass er als der Aufmerksamste unter uns diese Tatsache vermutlich als erster gemerkt hatte, wunderte mich kein bisschen.
„Hat man gar nicht mitbekommen", ironisch lachte Okan auf und haute mir gegen die Schulter. Ich lächelte ihn an, doch das schlechte Gewissen zerfraß mich innerlich — wie link war es von mir Augen für die Schwester meines besten Freundes, meines Bruders zu haben?
„Kommst du am Abend mit zum Training?", stellte Mevlüt seine Frage von vorhin erneut, woraufhin ich nur zustimmend nickte. Ein wenig Boxen würde mir helfen meinen Kopf freier zu kriegen. „Brauchen wir noch einen sechsten Mann?", ich blickte kurz in die Runde, doch schüttelte Gençer verneinend mit seinem Kopf. „Wir sind heute bei meinen Schwiegereltern eingeladen, also kann ich — egal wie sehr ich es auch wollen würde — nicht kommen", erklärte er sich und ich nickte verstehend.
„Entschuldigt mich, meine Pflicht als Bruder ruft — Amine braucht mal wieder einen Chauffeur", ich erhob mich nach weiteren Minuten von meinem Stuhl als ich meine Schwester vom Fenster aus sah, gab jedem einen Handschlag und lief gelassen an Mihriban und Hajdar vorbei. Innerlich fing ich an zu zählen, bis sie nach mir rufen würden — drei, zwei — „Selim Abi!", mit einem Lächeln im Gesicht wandte ich mich zu dem albanischen besten Freund von Mihriban zu und lief einige Schritte zurück. „Wie geht's dir?", er versuchte ebenfalls zu lächeln, doch war die Situation so surreal, dass er kläglich versagte. „Ganz gut, und euch?", kurz blickte ich zu Mihriban, die mich beobachtete, seitdem ich den Tisch meiner Freunde verlassen hatte. „Auch", Hajdar antwortete zwar für beide, doch nickte Mihriban zusätzlich zustimmend. „Wenn sonst nichts wäre, müsste ich los, Amine wartet draußen auf mich", ich deutete auf den Ausgang und steuerte ihn gleich zu, nachdem beide nickten und mich aus der Situation befreiten.

„Anne (Mutter), ich bin mit den Jungs beim Training", ich steckte meinen Kopf in die Küche, wo die wunderschönste Frau der Welt am Herd stand und Tee kochte. „Okay, pass auf dich auf", sie lächelte mich an, weswegen ich mich überwund und die Küche betrat, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken. „Bis später", verabschiedete ich mich von meiner Adoptivmutter, die mir bisher nie das Gefühl gegeben hatte, anders als ihre leiblichen Kinder zu sein.

Vor Okans Elternhaus hielt ich an und wählte die Nummer meines besten Freundes — da seine Mutter mit seinem Wagen unterwegs war, war er auf einen von uns angewiesen. Da aber Mevlüt und Azad direkt nach der Arbeit zum Boxclub fahren wollten, blieb mir nichts anderes übrig, als Okan mitzunehmen.

„Selim?", Mihribans Stimme ertönte aus dem Lautsprecher und mein Herz setzte aus. Überrascht blickte ich auf meinem Display um mich zu vergewissern, dass ich die richtige Person angerufen hatte. „Eh ja, ich stehe vor euerem Haus, kannst du deinem Bruder bescheid geben?", sprach ich, nachdem ich mich etwas gesammelt hatte. „Er kommt gleich raus, er telefoniert nur kurz mit Oma", erklärte sie und schwer atmete ich aus. „Okay", seufzte ich und hörte sie leicht kichern. „Bir of çeksem karşıki dağlar yıkılır (Wenn ich einmal seufze, werden die gegenüberliegenden Berge einstürzen; aus einem türkischen Volkslied)", sprach sie die erste Zeile eines türkischen Volksliedes an und brachte mich unwillkürlich zum Lächeln. „Evvel yarin sevdiği de bendim, şimdi uzaklardan bakan el oldum (Früher war ich derjenige, den meine Geliebte liebte, und jetzt bin ich der Fremde, der aus der Ferne zuschaut)", ergänzte ich das Lied mit den letzten beiden Zeilen. „Selim, sag so etwas nicht", ich wusste, dass sie beim Seufzen meines Namens die Augen schloss — das tat sie nämlich immer.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt