10. Heimkehr

1.3K 94 194
                                    

AZAD

„Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte. Es war ein absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir, nur daß er zwar von Dir erzwungen war, aber in der von mir bestimmten Richtung verlief."

Franz Kafka - Brief an den Vater

„Azad", rief eine strenge und dominante Stimme nach mir, nachdem ich meine Wohnung betrat.
Das war eindeutig nicht das, was ich erwartet hatte. „Baba", stellte ich überrascht fest und blickte ihm ins Gesicht.

Seit wann wusste er, dass mein Ersatzschlüssel bei ihnen zuhause war?

„Wie war dein Urlaub?", fragte er, als hätten wir das beste Verhältnis. „Gut", sagte ich knapp und zog dabei meine Jacke aus, bedacht ihn nicht anzusehen. „Du warst bei deiner Schwester", die Festigkeit in seiner Stimme zwang mich dazu, aufzusehen und dabei verfinsterte sich sein Blick. Und schon war das letzte bisschen Freundlichkeit aus meinem Vater herausgetreten. „Ich musste mit Pamir Abi reden", erklärte ich und atmete tief ein und aus.

Du hast nichts falsch gemacht, du musstest es tun, redete ich mir ein. Du warst es Okan schuldig.

„Und worüber?", schrie er mich unangekündigt an. Unwillkürlich zuckte ich zusammen und sah ihn mit gefüllten Augen an.

Es fühlte sich so an, als wäre ich in diesem Moment nicht mehr der 22 jährige Azad, sondern ein fünf jähriges kleines Kind. Ich fühlte mich so kraftlos, so verletzlich und so einsam. So wie sie mich mein Leben lang fühlen ließen.

„Ich-ich habe etwas für Okan gebraucht", flüsterte ich und senkte meinen Blick. „Ich habe es dir ausdrücklich verboten deine Schwester zu besuchen! Welchen Teil dieses Verbots hast du nicht verstanden?", seine Schreie wurden immer lauter, er kam immer aggressiver auf mich zu, bis er einen Schritt vor mir zum Stehen kam und ausholte. Seine flache Hand machte nach langer Zeit wieder Bekanntschaft mit meiner Wange. Unwillkürlich war mein Kopf zur Seite gekippt und die Intensität des Schlags machte sich augenblicklich nochmal deutlich. Meine Wange fing an zu pochen, und sie würde in den nächsten Minuten anschwellen. In den nächsten Tagen konnte ich also keinen Fuß vor meine Wohnung setzen und auch niemanden außer Okan an mich ranlassen.

„Ich sage es dir nur noch dieses eine Mal! Du hältst dich fern von ihr", mahnend hob er den Zeigefinger, ehe er mir den Rücken zuwandte und in das Innere meiner Wohnung lief. Wenige Sekunden später stand er mit seiner Aktentasche und seinem Jackett vor mir und lief leise an mir vorbei. Die Haustür fiel mit einem lauten Knall zu und ließ mich erneut aufzucken.

„Hoş buldum Baba (Antwort auf Willkommensgruß, wörtlich: Ich habe es angenehm gefunden, Vater)", flüsterte ich in die Leere und presste die Augenlider aufeinander. Meine Lippen formten sich unbeholfen zu einem traurigen Lächeln und ich strich mir müde übers Gesicht.

Genau so hatte ich mir meine Ankunft vorgestellt. Sarkasmus lässt grüßen.

„Pamir Abi (Bruder)", überrascht blickte ich meinem Schwager ins Gesicht, der am nächsten Morgen in meiner Tür mit Brötchen stand. Da er nicht geklingelt hatte, nahm ich an, dass ihm unten die Tür aufgemacht hatte. Unwissend hatte ich also die Tür geöffnet, und war sichtlich überrumpelt wegen seinem Auftreten. Wahrscheinlich kam er gerade von seiner Nachtschicht, denn er stand in seiner Polizisten-Uniform vor mir. „Ich habe mir mal das Recht genommen, mich selbst einzuladen", grinste er und lief in die Wohnung um sich die Schuhe von den Füßen zu streifen. „Mein Haus ist dein Haus Abi (Bruder)", lächelte ich ihn an und führte ihn in die Küche.

Fels in der BrandungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt