AZAD
„Dir fehlt immer, was dich niemand vermissen ließ."
Elmar Kucke und Hans-Christoph Neuert
Seufzend ließ ich meinen Blick über meine Jungs wandern, die sich an meinem Esstisch über ihre Lernsachen gebeugt hatten, während ich uns Tee kochte. Seit dem Beginn der Semesterferien sahen unsere Tage immer so aus: wir trafen uns am frühen Morgen bei mir zum Lernen und blieben bis spät in die Nacht beisammen. Die Wochen waren verstrichen, die Klausurphase neigte sich langsam aber sicher dem Ende zu — wir hatten bereits eine Klausur geschrieben und eine Studienarbeit, die wir bereits während des Semesters geschrieben hatten, korrigiert und abgegeben. Nun bereiteten wir uns auf die letzte Klausur vor, die in einer Woche anstand.
Obwohl unsere Tage so überfüllt waren und mein Gehirn ständig versuchte sich neue Sachen zu merken, konnte ich es nicht sein lassen an Zümra zu denken. Auch jetzt nicht, wo ich sie mit Okan auf dem Balkon plaudern hörte.
Sie war einige Male nach Stuttgart gekommen, hatte ihre Klausuren geschrieben und war wieder gegangen — das hatte ich an den Geräuschen aus ihrer Wohnung gemerkt und von Okan bestätigen lassen. Morgen war ihre letzte Klausur und danach würde sie bis zum Anfang des neuen Semesters ihre Zeit bei ihrer Familie verbringen.
Ich befüllte die bauchigen Teegläser und brachte sie zu Gençer, Selim und Mevlüt, die die Gläser dankend annahmen. Grinsend beobachtete ich wie Selims Hand automatisch zu dem Teller in der Mitte des Tisches wanderte, der mit Börek gefüllt war. Er hatte diese Macke, dass er beim Trinken eines Warmgetränks immer eine Kleinigkeit essen musste.
„Ich soll euch von Zümra grüßen", lächelnd ließ sich Okan auf seinem Stuhl nieder und lehnte sich gegen ihn. Stumm blickte er mir in die Augen und versuchte mit mir zu telepathieren.
„Wieso tust du euch diesen Scheiß an?", fragten mich seine Blicke und schuldbewusst wandte ich mich von ihm ab, nahm die anderen beiden Teegläser, die für ihn und mich bedacht waren, zwischen meine Hände und lief auf den Tisch zu. Stumm stellte ich das Glas vor seiner Nase ab, setzte mich auf den Stuhl neben ihm und beugte mich über die Altklausuren, die wir seit zwei Tagen versuchten fehlerfrei zu lösen.
„Mein Kopf explodiert gleich", Gençer massierte sich die Schläfen, während er die Augen fest zusammenpresste. „In meinem Kopf tanzt irgendjemand Horon (Horon ist ein Volkstanz aus dem Schwarzmeergebiet)", flennte Selim und verdeutlichte uns allen nochmal, dass er ein richtiger Lase war. Dadurch verfielen wir alle in schallendes Gelächter und überrascht riss er seine Augen auf. „Was habe ich wieder falsches gesagt?", Selim seufzte laut auf, woraufhin Okan ihm fest auf die Schulter klopfte. „Du bist eine Komödie für sich", er grinste süffisant und sorgte dafür, dass Selim wütend die Hand von seiner Schulter wegschlug. „Du kannst mich mal", gespielt lächelnd sprach Selim mit Okan und lehnte sich im Sessel zurück.
Wir hatten wieder den ganzen Tag gelernt und es war mehr als nur normal, dass die Jungs sich beschwerten. „Ich haue ab", Gençer stand als erster auf und anschließend erhoben sich alle von ihren Plätzen und liefen in den Flur.
„Bis morgen dann?", Okan grinste und ich nickte bestätigend. „Schlaft schön", lächelte ich den Jungs zu und sah ihnen zu, wie sie zum Aufzug liefen. „Und du solltest allgemein mal schlafen — ob schön oder hässlich", warf Selim in den Raum, ehe die Aufzugtüren sich schlossen.Schlafen — das wäre wohl wirklich eine gute Idee.
„Einen wunderschön guten Morgen", mit Essen gewappnet standen die Jungs am nächsten Morgen wieder vor meiner Tür und strahlten mich an. „Der Tee ist gekocht, frühstückt schonmal. Ich springe nur kurz unter die Dusche", ließ ich die Jungs wissen, die nacheinander meine Wohnung betraten. „Alles klar", Mevlüt nickte und steuerte die Küche zu. „Du hast wieder nicht geschlafen", Selim war als einziger im Flur geblieben und blickte mir kritisch in die Augen. Statt ihm zu antworten schenkte ich ihm ein müdes Lächeln. „İkinizi de harap ediyorsun, Azad! (Du zerstörst euch beide)", er versuchte mich — oder eher mein Herz — zu erreichen, doch dominierte mein Verstand wieder einmal. „Selim, es ist zu spät. Es ist vorbei", ich versuchte zu lächeln. Aus dem einfachen Grund, dass ich meine Tränen zurückhalten wollte. Selim schüttelte mit seinem Kopf und verschwand in der Küche, woraufhin ich das Bad zusteuerte.
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Fels in der Brandung
Fiksi RemajaZwei zerstörte Seelen, die aufeinandertreffen. Die sich gegenseitig heilen. Zümra und Azad. Man sagt Liebe sei das Aufeinandertreffen von zwei Seelen, die gegenseitig all ihre guten und schlechten Seiten akzeptieren und bereit sind alles füreinander...