Kapitel 5♚

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Ich hatte wirklich gedacht, dass der Tag noch  schlimmer werden würde, bevor ich in der Mittagspause in die Bibliothek ging.

Erst musste ich mich dazu bereit erklären, für Linn einen Jungen anzusprechen und dann hat sich der Unterricht in den ersten Stunden lang gezogen, während mich mein Banknachbar die gesamte Zeit von der Seite angeglotzt hat.
Dazu hatte ich das beklemmende Gefühl, dass alle meine Mitschüler jeder meiner Bewegungen mit scharfen Blicken beobachteten. Doch immer wenn ich aufblickte, richteten sich diverse Köpfe wieder nach vorne.

Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass man alles bloß durch meinen Augen erfahren konnte-alle was ich verberge.

Und dann- der absolute Höhepunkt des Tages:
Ich sehe Henry in der Bibliothek stehen und gehe gerade ein paar Schritte auf ihn zu, um den Gefallen für Linn hinter mich zu bringen.
Und dann sehe ich die Person, mit der er gerade redet und die bei ihm steht.

Jasper.

Ich bleibe stehen.
Da kann ich jetzt nicht hingehen.

Hin und her gerissen davon, ob ich jetzt besser einfach weg gehen sollte oder ob ich trotzdem zu Henry gehe und dabei endlich die Aufmerksamkeit von Jasper auf mich ziehe, verweile ich unsicher an meinem Platz.

Gerade als ich in meinen Gedanken versinke, merke ich, dass mein Blick die ganze Zeit auf Henry gerichtet war und ich verkneife mir ein erschrockenes Gesicht, als dieser mich entdeckt, aufhört zu reden und mir stattdessen freundlich zulächelt.

Nein.

Kurz überlege ich, ob es auffallen würde, wenn ich mich jetzt einfach umdrehe und gehe.
Doch dann geht alles viel zu schnell und bevor ich überhaupt fertig gedacht habe, passiert das unvermeidliche:

„Hey Kaddee!", sagt Henry laut genug, dass seine Stimme in der Bibliothek zu hallen scheint.
Ein kalter Schauder läuft mir den Rücken hinab und ich spüre für einen kurzen Moment die Kälte in mir deutlicher als sonst.
Meine Fingerspitzen kribbeln.

Jasper dreht sich Sekunden danach ebenfalls nach mir um und guckt direkt in meine Richtung.
Mein Herz klopft viel schneller als sonst und meine Wangen fühlen sich warm an.

Die wohligste Wärme die ich je spüren durfte.

Ich versuche sein Gesicht nicht zu lange anzuschauen, weil ich mich sonst nicht mehr losreißen könnte. Seine Augen sind viel zu blau und voller Leben und von seinen Haaren brauche ich garnicht erst anzufangen.

Ich gucke zu Henry und versuche diese Wärme von Jasper irgendwie zu speichern oder länger behalten zu können obwohl ich weiß, dass es nicht funktionieren wird, egal wie sehr ich mich anstrenge.
Wenn er nicht mehr in meiner Nähe ist, wird die Kälte wieder die Oberhand gewinnen und alles andere verschlucken.

„Hey. Ich wollte gerade zu dir", sage ich und trete ein paar Schritte auf ihnen zu und bleibe einen Meter vor den beiden Jungs stehen. Ich versuche natürlich zu klingen und meine Angst herunterzuschlucken.

Henry schaut mich ein paar Sekunden verblüfft an.
„Zu mir? Oh.. äh ich meine, also, wie kann ich dir helfen?"
Mit großen Augen guckt er mir ins Gesicht und ich lege meinen Kopf etwas schief als sein Gesicht auch noch rot anläuft.

Ein kurzer Seitenblick zeigt mir, dass Jasper nicht mehr in meine Richtung guckt, sondern Henry mit undefinierbaren Gesicht bedenkt.
Henry klingt richtig nervös.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Jasper seinen Kopf wieder in meine Richtung wendet und seine Augen mich von unten bis oben mustern.
Ich versuche so zu tun, als würde ich es nicht merken.
Jetzt ja nicht komisch da stehen.

„Es ist auch nichts schlimmes", versuche ich nun Henry etwas zu beruhigen und setze ein freundliches Lächeln auf.
Doch dass bringt ihn fast noch mehr außer Fassung.

Wolfsmond - Geheimnis der Legende Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt