Kapitel 23♚

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Erst berührt es meine Hand. Ich nehme es garnicht wahr, bis es schließlich weiter nach oben wandert und meine Handgelenke so plötzlich umschließt, dass ich hektisch die Augen aufreiße und in die Höhe fahre.
Mein Atem geht schnell, als ich realisiere, dass es früh am Morgen ist. Die Luft ist kalt und klar. Noch nicht einmal die Vögel zwitschern.

Nebel schleicht sich um die Baumkronen und die Hälfte des Waldes ist nicht mehr zu sehen, als ich aus meinem Zimmerfenster schaue.
Ich blicke zu meinen blau angelaufen Händen und brauche mehrere Augenblicke, diese wieder bewegen zu können.
Es knackt in meinen Ohren unnatürlich laut.

Beinahe hatte es sich so angefühlt, als ob der Tod höchstpersönlich meine beiden Hände berühren würde.



Im Laufe des Schultages muss ich immer wieder daran zurück denken. An diesen Morgen. Noch vor wenigen Stunden saß ich im Morgengrauen wach auf meinem Bett und dachte nach. Aus unerfindlichen Gründen habe ich sofort die Rubinkette abgenommen. Es macht mich nervös, sie zu tragen und ihre Wärme so zu genießen. Dabei weiß ich nicht einmal ein Bruchteil dessen, was ich über diesen Rubin wissen sollte.

Etwas liegt mir schwer im Magen, bei dem Gedanken nach der Schule in die Bibliothek zu gehen.
Linn jedoch ist Feuer und Flamme und kann es beinahe kaum erwarten mit in das Abenteuer gezogen zu werden. Aus vielen Gründen beruhigt mich das.
Ich bin nicht alleine, versuche ich mir immer wieder einzureden, als ich über Linn nachdenke. Ich war nie alleine, weil sie immer bei mir war, um mich zu unterstützen. Sie sitzt im gleichen Boot wie ich. Sie hat auch die einzigen Werwolf Eltern auf dieser Welt und das gleiche abgedrehte Leben.

Und dabei weiß ich es doch ganz genau, wenn ich mein Spiegelbild und meine unnatürlich blauen Augen betrachte. Jeden Tag, wenn ich die Kälte spüre, die sich immer tiefer in mein Herz gräbt und immer mehr von meinem Körper in Besitz nimmt.

Irgendwann wird sie mich verschlingen.
Und dabei werde ich so einsam sein, dass mich nicht einmal der Gedanke an meine Familie trösten wird. Und mir wird nichts und niemand helfen, wenn die Dunkelheit nach meiner Hand greift und in das Reich der Toten führt.
Nur die Kälte wird mein stiller Begleiter sein.

Erst als mir eine einzige Träne über die Wange läuft, bemerke ich, dass ich weine.
Schnell wische ich sie mir weg und hoffe, dass es niemand gesehen hat.
Kurz lasse ich meine Augen auf den leeren Platz gegenüber von mir verweilen, ehe ich mich wieder in die Wirklichkeit begebe.
Stimmengewirr ertönt wieder in meinen Ohren und diesmal versuche ich, es nicht auszublenden.
Denn das ist das einzige was ich an Normalität habe.

Ich hebe meinen Kopf und blicke mich in der Mensa um.
Dann erkenne ich Linn ihren roten Haarschopf unter den vielen Schülern.

Dabei streifen meine Augen zufällig Jasper und bestürzt stelle ich fest, dass er direkt in meine Richtung schaut. Sofort frage ich mich, ob er mich schon länger beobachtet und es vielleicht sogar gesehen hat.

Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, als ich meine Augen gefließlich an ihn vorbei gleiten lasse, als hätte ich ihn nicht bemerkt.
Ziemlich schnell senke ich meinen Kopf wieder und versuche mein plötzliches Herzrasen zu unterdrücken.
Kein einziges Mal schaue ich mehr auf.


Mit rot wippenden Haaren kommt meine kleine Schwester auf mich zu. Ihre Schritte hallen laut im leeren Flur und kurz beneide ich die vielen Schüler, die jetzt schon zuhause sind.
Ich stattdessen muss mich in ein Gespräch begeben, das mir ganz und garnicht gefällt.

„Leg' den Rubin über dein Oberteil. Die beiden Blödis können ihn ruhig betrachten, ohne die Möglichkeit zu haben, ihn berühren oder nehmen zu können", sagt Linn ohne jegliche Begrüßung.

Ich muss lächeln. „Du bist ein Biest."
Doch ich tue trotzdem wie mir geheißen und hebe den Anhänger hinter meinem Oberteil hervor. Es ist ungewohnt, den Rubin so zu tragen. Er ist nicht gerade unauffällig und würde jedem Menschen sofort ins Auge stechen.

Linn erwidert mein Lächeln. Ein Biest zu sein ist für sie offen gesagt nicht einmal irgendeine Art von Beleidigung. Wenn ich so darüber nachdenke, könnte sie es sogar als Kompliment auffassen.

„Dann mal los."
Zur Bibliothek müssen wir nur wenige Schritte machen. Als wir vor dieser ankommen, fangen meine Hände an nervös zu zucken. Ich verschränke sie ineinander und versuche den Impuls zu unterdrücken, mich umzudrehen und abzuhauen.
Stattdessen tue ich das erste was mir einfällt, um mich abzulenken.

„Ich spüre, dass sie schon drin sind", sage ich leise, als ich von beiden die Wärme spüre und bewusst wahrnehme, die sie ausstrahlen.
Auch wenn Linn sich keine Aufregung anmerken lässt, sehe ich, dass sie nach meinem Worten tief Luft holt, bevor sie die Tür auf stößt.

Als ich hinter Linn den Raum betrete hebe ich nur kurz meinen Blick. Zwischen all den Büchern und der abgestandenen Luft stehen Light und Jasper.
Beide schauen in unsere Richtung.

Nun, da ich die Brüder nebeneinander stehen sehe, merke ich, dass doch kaum Ähnlichkeit zwischen ihnen herrscht.
Jasper strahlt eine ganz andere Wärme aus als Light. Die Luft um ihn herum scheint zu pulsieren.

Unsere Schritte hallen in der Stille der Bibliothek und ich erschaudere.
Als wir in gebührenden Abstand vor ihnen zum stehen kommen, spüre ich Jaspers Aura um mich herum und wäre am liebsten darin versunken. Oder davor geflohen.

Ich lasse meine Augen nicht in seine Richtung schweifen, weil er von weiter weg schon gut genug ausgesehen hat. Jetzt, genau vor ihm, traue ich mich nicht einen Blick in seine Richtung zu werfen.
Dabei spüre ich seine Augen deutlich auf mir.
Etwas in mir nimmt eine abwehrende Haltung ein, da dieser Junge in so kurzer Zeit so viel über mich und meine Gefühle herausgefunden hat. Zumindest denkt, herausgefunden zu haben.

Light guckt mir in die Augen und sogleich fallen seine Augen an den Rubin, der an meinem Hals hängt.
Seine Brauen wandern nach oben und seine Augen werden kaum merklich größer.
„Du kannst den Rubin also wirklich mit bloßer Haut berühren", stellt er fest. Seine Stimme klingt zerstörerisch laut in der Stille.
Jasper hat es ihm also erzählt.

Ich räuspere mich.
„Gut das wir uns treffen konnten. Ich hoffe es ist okay, dass Linn bei mir dabei ist."
Mein lächerlicher Versuch die angespannte Stimmung aufzulockern funktioniert tatsächlich.
Denn Light schenkt seine Aufmerksamkeit jetzt meiner Schwester und lässt stattdessen seine Augen von der Kette.

„Natürlich ist es okay, dass die Schönheit hier ist.
Wir hatten noch nicht das Vergnügen, uns anständig zu unterhalten", sagt Light und senkt zum Gruß seinen Kopf. Dabei sieht er ihr so tief in die Augen, dass es mir beinahe hochkommt.

Ich blicke zu Linn und erkenne doch tatsächlich das sie errötet!
Ich sollte lieber nicht erwähnen, das er schon ein paar Jährlichen älter ist als sie.
Linn sah schon immer sehr viel erwachsener aus, als sie in Wirklichkeit ist.

„Danke", bringt Linn hervor und ich kann mir dann doch kein Augenrollen mehr verdrücken. Ihre Stimme klingt jetzt schon ein paar Oktaven höher. Dabei hatte ich sie nicht mitgenommen, um sich in den nächsten Jungen zu verknallen, nur weil er ihr schöne Augen macht.
Henry scheint Geschichte zu sein. Dieser arme Kerl.

Noch während ich nachdenke, nehme ich wahr, das Jasper Luft holt, um etwas zu sagen.
„Wir sollten uns hinsetzen. Ich denke, dass wird etwas länger dauern heute", ertönt seine tiefe Stimme auch schon und unterbricht augenblicklich die aufgeladene Stimmung.
Ich blicke auf und kann nicht verhindern, dass ich ihn direkt anschaue.

Seine Augen sind hinunter auf meinen gesenkt, als hätte er nur mit mir geredet und gewartet, bis ich ihn ebenfalls ansehe.
Ich halte seinen Blick stand und rufe mir innerlich die Stärke in Erinnerung, die ich in den letzten Tagen viel zu schnell vergraben hatte.

Ich spüre, dass sich ein Lächeln auf meinen Lippen bildet, dass ich nicht einmal selber einschätzen kann.
Vorfreude mehr über den Rubin und den Plänen von Aron zu erfahren machen sich in mir breit und plötzlich kann ich es kaum mehr erwarten dieses Gespräch zu beginnen.

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