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Ich wusste, dass Henry nur an die Fachhochschule kam um uns in Arbeit, Wirtschaft und Soziales zu unterrichten. Vermutlich würde er nicht mal das ganze Trimester als Lehrkraft eingesetzt werden und irgendwann würde einer der Dozenten uns übernehmen.

Da wir heute keine Vorlesungen zu unserem gewählten Schwerpunkt hatten, war es von mir völlig unnötig zu hoffen ihn zufällig über den Weg zu laufen. Und dennoch hielt ich andauernd Ausschau nach seinem dunklen Haarschopf.

Ich musste dringend mit ihm reden und mich für meine unwirsche Reaktion am gestrigen Vormittag entschuldigen. Immerhin hatte ich etwas beleidigt, was offensichtlich ein Teil von ihm war, ohne überhaupt zu verstehen was alles dahinterstand.

Und auch jetzt kam mir das alles immer noch surreal und abstrakt vor. Einige Aspekte leuchteten mir einfach nicht ein. Beispielsweise verstand ich nicht, wie man einen Menschen gleichzeitig lieben konnte und ihm dennoch Schmerzen zufügen wollte.

Widersprach sich das nicht völlig?

Andererseits hatte ich es zumindest im kleinen Ausmaß erlebt gehabt und es hatte mir gefallen. Sehr sogar. Vielleicht konnten wir es ja nochmal versuchen. Meine Haut nur begann bei dem Gedanken zu kribbeln.

Doch wohin ich auch sah, kein Henry war weit und breit zu sehen, weshalb meine Laune immer trübsinniger wurde und ich letztendlich lustlos zu meinem alten Auto lief. Ohne groß darüber nachzudenken, wie ich den restlichen Tag nutzen wollte.

Ich öffnete die Tür und stöhnte genervt auf, da mir die im Wagen angestaute Wärme ins Gesicht schlug. Ich hasste in der Sonne erhitze Autos, aber bis zu meiner WG zu laufen, kam nicht in Frage. Wenn ich eins noch mehr hasste, als heiße Luft im Innenraum meines Fords, dann war es Sport bei dieser Wärme.

Also beugte ich mich meinem Schicksal und fuhr los. Ich wischte auf meinem Handy kurz rum und Sekunden später wummerten die Klänge von Evanescance durch den Wagen und ich drückte aufs Gas.

Meine Gedanken begannen sich dem Rhythmus des Liedes anzupassen und fasste einen Entschluss für mich. Zum ersten Mal an diesem Tag atmete ich durch. Bei meiner gewohnten Ausfahrt zögerte ich nicht mal, bevor ich der Hauptstraße weiter in die Innenstadt folgte.

Die Fahrt dauerte nicht lang genug, als dass ich mir Gedanken über mein Handeln machen konnte und ehe ich mich versah stand ich einen Block von seiner Wohnung entfernt auf einem Parkplatz und band meine Haare zu einem Zopf.

Vielleicht sollte ich das doch lassen. Vermutlich war er nicht mal zu Hause.

Frustriert schloss ich meine Augen und versuchte verzweifelt die Zweifel in mir zu bekämpfen, bevor ich ausstieg und mit schnellen Schritten zu dem Haus zu hasten, welches ich am Vortag noch so schnell verlassen hatte.

Mein Puls hämmerte und ich spürte wie mein Herz in meinem Brustkorb tanzte, als ich die Hand hob um zu klingeln. Eine Zeitlang passierte gar nichts und ich hörte auch keine Geräusche hinter der Tür vor mir, welche auf seine Anwesenheit hindeuteten.

Fast schon enttäuscht, aber auch ein wenig erleichtert wollte ich mich gerade zum gehen wenden, als die Tür in einer harschen Manier aufgerissen wurde. Vor Schreck stieß ich einen kleinen Schrei aus und funkelte Henry böse an.

Jetzt machte mein Herz Sprünge.

„Erschreckst du alle deine Besucher so?"

Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben und er schüttelte den Kopf, bevor er seinen Finger an die Lippen hielt. Seine Haare waren ein wenig zerzaust und er wirkte ein wenig atemlos. Erst jetzt fiel mir auf, dass er ein Handy in der Hand hielt und es jetzt ans Ohr hob.

AuroraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt