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Ich tippte leicht mit dem Fuß auf den harten Boden und betrachtete den Sekundenzeiger auf meiner kleinen Armbanduhr, welcher sich nur quälend langsam im Kreis zu bewegen schien. Eigentlich trug ich nur äußerst selten Schmuck. Ich mochte es nicht sonderlich und hatte ständig Angst ein kleines Teil, sei es ein Ohrring oder eine Kette, zu verlieren.

Aber seit einer Woche musste ich auf die kleine Uhr an meinem Handgelenk zurückgreifen, da mein „neues" Handy keine Alarmfunktion oder zuverlässige Zeitanzeige aufwies. Was sollte ich auch erwarten, von einem Handy, was ein Jahr zuvor noch meiner Mutter gehört hatte.

Alex Liebes, ein Handy ist zum Telefonieren da und das kann dieses hier ausgezeichnet.

Natürlich hatte ich mein Smartphone gesucht gehabt, wobei mir die Umgebung um den Waldsee selbst am helllichten Tag gruselig vorkam, aber von meinem Handy- keine Spur. Und so stand ich vor Henrys Haustür und wartete auf den richtigen Moment.

Als ob ich das nötig hatte. Mit ein paar Strafschlägen würde ich sicherlich ausgezeichnet klarkommen.

Der Minutenzeiger rückte ein winziges Stück vor und ich holte tief Luft. Noch 50 Sekunden. Ja: mir war klar, dass ich gerade übertrieb. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Henry selbst da drinnen auch die Sekunden zählte.

Aber wenn doch dann natürlich mit seinem Smartphone.

Trotzdem wollte ich ihm die Genugtuung nicht geben, gleich von der ersten Minute an die Oberhand zu haben. Aus einem unergründlichen Bauchgefühl heraus konnte ich etwas ganz klar für mich feststellen: Ich mochte diesen gewissen Schlagabtausch, das Machtspiel.

Ich zupfte am Saum meiner Bluse und zog ein paar Strähnchen aus meinem straff gebundenen Zopf, bevor ich einen letzten Blick auf die Uhr warf und dann meine Hand hob, um zu klopfen. Nervös atmete ich tief ein und wartete, bis ich Schritte hörte und die schwere Tür sich schließlich öffnete.

„Komm rein."

Bereits jetzt löste der Klang seiner Stimme etwas in mir aus. Ich zog meine Schuhe aus und folgte Henry entschlossen. Doch anstatt in sein Schlafzimmer zu laufen, ging er in sein Wohnzimmer und setzte sich aufreizend gleichgültig auf einen der zahlreichen Stühle, welche nahezu penibel ordentlich um den großen Esstisch herumstanden.

„Wie geht es dir?"

Er bedeutete mir mich zu setzten und ich leistete seiner stummen Aufforderung folge. Wie beiläufig öffnete Henry den obersten Knopf seines weißen Hemdes und lenkte meinen Blick auf die rosa schimmernde Naht, welche den Knopf mit dem Stoff verband.

Eine Erinnerung an seine letzte Drohung.

Ein Grinsen stahl sich auf mein Gesicht. „Mir geht es ausgezeichnet und dir Meister?"

Henry erwiderte meinen Blick und auch wenn ich meinte auch eine gewisse Belustigung in seiner Stimme zu erkennen, blieb seine gesamte Haltung ernst. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und betrachtete ihn aufmerksam. Ich war mir nicht wirklich sicher ob er jetzt einfach nur mit mir reden würde, oder mich gleich ins Schlafzimmer zerren würde.

„Mir geht es gut. Hast du etwas gegessen?"

Ich verdrehte meine Augen. Was sollte das nun wieder? Wenn Henry jetzt wieder damit beginnen würde mich wie Glas zu behandeln, dann konnte ich für nichts garantieren. Alleine in diesem Moment hasste ich mich für meine Pünktlichkeit.

Selbst schuld!

Henrys Hand schnellte vor und griff grob nach meinem Kinn und drehte mein Gesicht auf eine höchst schmerzhafte Art und Weise zu sich. Ich zog zischend die Luft ein, erwiderte aber ohne Zögern seinen forschenden Blick.

AuroraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt