46◇

4.9K 255 46
                                    

Es war merkwürdig nicht mit Henry mitzufahren, sondern ihn in meinem kleinen Ford zu folgen. Aber er hatte recht gehabt, als er vorgeschlagen hatte mit kleinem Zeitabstand die Fachhochschule zu verlassen.

Und nun saß ich schwitzend in meinem langen Anzug auf dem unbequemen Sitz, meine Gedanken gingen in alle möglichen Richtungen und erlaubten mir nicht vernünftige Schlüsse aus all dem hier zu ziehen. Ich fühlte mich erleichtert, nachdem ich so vielen Menschen von dem Fall meiner Familie berichtet hatte.

Es war, als hätte ich zumindest auf diese unglaubliche Ungerechtigkeit aufmerksam gemacht.

Aber gegen sie vorgehen konnte ich nach wie vor nicht. Seufzend bog ich in eine schmale Gasse nah von Henrys Haus ab und versuchte mich kurz zu sammeln. Wenn alles nach Plan laufen würde, wäre die ganze Geschichte zumindest für einen Moment vergessen.

Konzentriert parkte ich mein Auto ab und stieg dann aus dem aufgeheizten Innenraum aus. Ein paar Passanten beäugten mich neugierig, vermutlich da ich bei wärmsten Sommertemperaturen einen Anzug trug.

Mein Haar hatte ich elegant nach oben gesteckt und mein eigener Anblick im Spiegel hatte mich beinahe erschreckt. Aber was war mir anderes übriggeblieben? Die Angst, jemand könnte die schon fast verblassten Flecken auf meiner Haut sehen, hatte die Wahl meines Outfits ziemlich leicht gemacht.

Außerdem wollte ich seriös und ernsthaft rüberkommen.

Doch jetzt fühlte ich mich gar nicht mehr so bodenständig, als ich Henrys Klingel drückte und angespannt wartete. Gespannt lauschte ich den Geräuschen hinter der schweren Holztür, bis diese endlich geräuschlos aufschwang.

„Komm rein."

Ich betrat den schlichten Flur, diesmal jedoch betrachtete ich alles mit anderen Augen. Die gerahmten Knoten an der Wand, den leeren Kerzenständer auf der Kommode.

„Willst du was trinken Alex?"

Ich schüttelte stumm den Kopf und folgte ihn dann in sein Schlafzimmer. Alles wirkte ordentlich und sauber, von unserem letzten Liebesspiel war nichts weiter zu sehen. Trotzdem lag eine erwartungsvolle Spannung schwer in der Luft.

Und da war noch etwas.

Es war als hätte eine innere Unruhe von Henry Besitz ergriffen. Zwar wirkte seine komplette Gestalt entspannt und gefasst wie immer, aber seine Augen loderten.

„Du musst mir sagen was du willst Alex."

Ich schluckte. „Ich will wieder frei sein."

Als hätte ich ihn ein Messer in die Seite gerammt wich er einen Schritt zurück, fing sich aber binnen Sekunden wieder. Ich sah, wie er die Zähne zusammenbiss und die Muskulatur seines Kiefers deutlich hervortrat.

„Du wirst dich ein wenig genauer ausdrücken müssen!"

Als ob er es nicht genau wüsste. Was war nur mit ihm los?

„Ich will einhundert?"

Meine Stimme klang fordernd und das schmerzhafte Verlangen in mir, mich wieder diesem Mann hingeben zu dürfen, rauschte durch meine Adern wie eine euphorisierende Droge. Alleine die Distanz, welche zwischen uns lag und unterstrich, wie sehr ich mich zu ihm hingezogen fühlte, ließ mich spüren, was er alles mit mir anstellen konnte.

„Einhundert?"

Eine bittere Belustigung schwang in seiner Stimme mit und ein zynisches Lächeln zog sich über sein Gesicht. Binnen Sekunden hatte er das offene Fenster geschlossen und den Vorhang ein Stück weit vorgezogen, so dass die Helligkeit in seinem Schlafzimmer deutlich abnahm.

AuroraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt