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Alles war verschwommen und selbst das Luftholen fiel mir schwer. Auf meiner Zunge hatte sich ein bitterer Geschmack gelegt und mein Schädel pochte. Trotzdem musste ich mich zu konzentrieren. Ich versuchte bei Bewusstsein zu bleiben und tapfer einen Fuß vor den anderen zu setzten.

Der kurze Hinweg von meinem Elternhaus bis zu dem kleinen Waldsee war mir wie ein Katzensprung vorgekommen, doch jetzt fühlte er sich wie ein Marathon an. Mittlerweile schien die berauschende Wirkung der Droge nachgelassen zu haben und machte diesem dumpfen Pochen in meinem Kopf Platz.

Erleichtert seufzte ich auf, als ich endlich diesen verfluchten Wald verließ und auf die offene Straße trat. Die Sonne senkte sich bereits und ich zwang die Panik in mir zur Ruhe. Von hier aus kannte ich den Weg.

Nur noch ein paar Meter!

Selbst im Schlaf hätte ich das Haus meiner Eltern gefunden, ich durfte nur nicht wieder zusammenbrechen. Ich hatte Angst, nochmal die Orientierung und den Halt zu verlieren und Stunden später im Dunklen wieder zu erwachen. Nein- ich musste raus hier.

Ich musste wieder nach Hause.

Hier auf dem asphaltierten Weg schien es wärmer zu sein, als unter den dichten Baumkronen, trotzdem blieb die eiserne Kälte in meinem Körper eingeschlossen.

Müde schlang ich die Arme um meinen verschwitzten und erschöpften Körper. In der Innenstadt wäre ich bestimmt jemanden aufgefallen oder hätte jemanden angetroffen, der mir hätte helfen können, doch in unserem kleinen Vorort herrschte bereits zu so früher Stunde Stille auf den Straßen.

Ich überlegte kurz einfach an einem der Häuschen zu klingeln, welche den Straßenrand säumten, doch ebenso gut konnte ich die letzten Meter bis zu meinen Eltern auf mich nehmen. Ich mobilisierte meine letzten Kräfte und bog in die kleine Nebenstraße ein, in welcher wir wohnten.

Ein heißer Lufthauch wehte mir meine verhedderten Haare ins Gesicht und ich versuchte sie mir aus dem Gesicht zu streifen, bevor ich in unsere Einfahrt abbog und mich erleichtert auf die Bank neben dem Fenstersims fallen ließ.

Meine Muskeln zitterten leicht und der beißende Geruch von meinem Erbrochenen haftete noch immer an meinen Händen. Angewidert von mir selbst kauerte ich mich zusammen. Das nahezu idyllische Bild vor meinen Augen begann sich zu drehen und ich fühlte, wie mich ein weitere mal dieses Schwindelgefühl überwältigte.

Ich musste wach bleiben. Es waren nur ein paar Meter bis zur Tür. Wenn ich es schaffte zu klingeln würde mir sicher meine Mutter öffnen und...

Doch mein Körper fühlte sich viel zu schwer an und ich blinzelte angestrengt, in dem Versuch wieder deutlich sehen zu können. Wie benommen nahm ich wahr, wie es bereits dunkler geworden war und wie sich die vielen Blumen, welche meine Mutter gepflanzt hatte, in der Einfahrt wiegten.

Wie tausende kleine Lichtpunkte...

Ich glaubte sogar Schritte zu hören und wenig später Stimmen. Doch mein Kopf fühlte sich zu schwer an, als das ich ihn die die Richtung drehen konnte, aus welcher die Geräusche kamen. Ich meinte aus dem Augenwinkel zwei Gestalten zu sehen, doch ebenso gut hätte mir mein traktiertes Bewusstsein einen Streich spielen können.

2Konzentrier dich. Versuch zwischen Realität und Illusion zu unterscheiden!" Ermahnte mich mein Unterbewusstsein.

Die Stimmen verstummten und Sekunden später trat jemand in mein Blickfeld und rief laut etwas, was jedoch in meinen Ohren verzerrt und höllisch laut klang. Und dann sah ich in zwei blassgründe Augen, welche ich selbst in diesem Moment nicht verwechseln konnte.

Henry.

Angestrengt versuchte ich das Trugbild vor meinen Augen wegzublinzeln. War ich mittlerweile wirklich schon so ausgelaugt, dass ich halluzinierte. Ich wusste, dass Henry unmöglich hier sein konnte. Woher sollte er auch wissen wo ich wohnte?

Trotzdem beugte ich mich vor und streckte instinktiv meine Hand nach ihm aus. Doch meine Finger griffen uns Leere und ich verlor das Gleichgewicht auf der Bank. Mein Kopf schaltete zu spät und wie ein nasser Sack fiel mein bereits geschundener Körper auf den gepflasterten Weg.

„Verdammt Alex."

Ich stöhnte vor Schmerz auf und das Pochen in meinen Ohren schwoll erneut an. Alles tat weh und drehte sich. Ich war wirklich mit all meinen Kräften am Ende, ohne jeden Zweifel.

„Henry."

Wie ein Flüstern verließ das Wort meine Lippen und klang kaum lauer als ein Hauch. Und plötzlich legten sich zwei kräftige Arme und mich und pressten mich an eine Brust, unter welcher ich ein wild schlagendes Herz hörte.

Oder war es mein eigener Puls?

Haltsuchend vergrub ich meine Finger in dem dünnen Stoff, welcher sich über Henrys Körper spannte und klammerte mich an ihn. Die Wärme, welche er ausstrahlte brachte mich dem Hier und Jetzt ein kleines Stück näher, doch sobald ich meine Augen erneut öffnete, begann sich wieder alles zu drehen.

Ein Krächzen verließ meinen Hals, vermutlich der Verzweiflung geschuldet, welche sich jetzt erneut Bahn brach. Ich fühlte mich absolut hilflos. Haltsuchend klammerte ich mich an Henrys warmen Körper fest und er umarmte mich noch fester und presste sein Kinn auf meinen Haaransatz.

„Du bist ja eiskalt." Murmelte er in mein Haar.

Dann hörte ich eine weitere aufgeregte Stimme- meine Mutter, welche wild auf Henry einredete. Ich wusste, dass es um mich ging, doch mein Wahrnehmungsvermögen reichte nach wie vor nicht aus um hinter den in sich verschwimmenden Worten einen Sinn zu finden.

Doch dann spürte ich, wie sich Henrys Griff um meinen Körper lockerte und er mich widerwillig loszulassen schien. Sofort ergriff die in mir aufsteigende Panik von mir besitz und ich krallte meine Hände nur umso fester in sein Hemd.

Nein. Bitte, geh nicht!

Kraftlos versuchte ich den Blick meiner Mutter zu finden und ihr wortlos zu verstehen zu geben, dass ich ihn brauchte. Weitere Stimmen kamen dazu und hinter dem weißblonden Haar meiner Mutter erkannte ich weitere Gestalten, welche auf mich zugeeilt kamen.

„Kannst du stehen?"

Henrys beruhigende Stimme drang durch den dichten Schleier der Geräuschkulisse zu mir durch und unsicher nickte ich. Doch sobald meine Füße den Boden berührten knickte ich erneut ein und wäre ein weiteres Mal zu Boden gefallen, wenn Henrys starke Arme mich nicht rechtzeitig aufgefangen hätten.

Ohne auf meine wild gestikulierende Mutter einzugehen, hob Henry mich kurzerhand hoch und presste mich wie ein kleines Kind an seine Brust, bevor er sich in Bewegung setzte und auf unsere Haustür zusteuerte.

Nur schemenhaft nahm ich die Umrisse unseres Wohnzimmers war: den Kamin, die hohen Bücherregale und das große Sofa, auf welchem sich Henry mit mir in den Armen niederließ und einen Arm von mir löste, um nach der gehäkelten Wolldecke auf der Lehne zu greifen.

Vorsichtig breitete er den Stoff über uns auf und ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Ich spürte bereits, wie nun auch das letzte Quäntchen Kraft meinen Körper verlief und meine Augenlieder wie von selbst zufielen.

Alles um mich herum wurde dumpf und leise und das Einzige was ich hörte waren drei Worte, welche Henry wie ein Mantra in mein Haar murmelte.

Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich.

Und dann wurde alles ein weiteres mal schwarz.

AuroraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt