Jessie sah mich verunsichert an, während Cole immer noch an mir zog.
„Komm, lass uns verschwinden. Es hat keinen Sinn mehr!"
Doch ich löste mich aus Cole's Griff und starrte Jessie erwartungsvoll an:
„Raus mit der Sprache! Welches Geheimnis, Jessie?"
Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und schluchzte laut, als er sagte:
„Unser Vater lebt."
Ich war wie erstarrt, „Was? Was sagst Du da? Aber...aber Matt hat mir erzählt, dass er in Afghanistan ums Leben gekommen ist.", Jessie schüttelte den Kopf. Seine tränenerfüllten Augen blickten mich hilfesuchend an.
„Jetzt sag bloß nicht, dass Matt nichts davon weiß."
Jessie konnte meinem Blick nicht standhalten und starrte auf den Fußboden. Er war nervös. Ständig fuhr er mit den Händen durch seine Haare, ich bemerkte, dass seine Beine zitterten.
„Mom und ich haben ihn belogen. Wir wollten, dass er glaubt, Dad sei tot."
Fassungslos schlug ich eine Hand vor meinen Mund.
„Mein Gott, was habt Ihr getan?", rief ich entsetzt.
„Das ist doch krank!", meldete sich Cole wütend, „Mir reicht's! Diese Leute sind doch verrückt. Es wird Zeit zu gehen, Katharina!"
Ich sah zu Cole, der mir seine Hand entgegenstreckte.
„Weißt Du was? Du hast Recht. Lass uns gehen!"
Jetzt schaute Jessie auf und ich sah jede Menge Tränen, die seine Wangen hinunter liefen.
„Bitte, Kat. Lass es mich Dir erklären...wir...!"
Ich unterbrach ihn, indem ich meine Hand abwehrend hoch hielt.
„Ich will es nicht hören, Jessie. So etwas kann man doch seinem eigenen Bruder nicht antun.", dann sah ich ihm tief in die Augen, „Du widerst mich an.", erschrocken über meine eigene Aussage erhob ich mich rasch und klammerte mich an Cole's Arm.
„Können wir endlich gehen?", fragte er ungeduldig.
Ich nickte stumm, ohne dabei meine Augen von Jessie abzuwenden.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Jessie sprang auf, und packte mich am Arm. Ich hatte keine Chance auszuweichen. Er drückte so fest zu, dass der Schmerz mich geradezu in die Knie zwang.
„Was tust Du da? Lass Sie gefälligst los, Du Arsch!", Cole versuchte Jessie von mir wegzudrücken. Doch Jessie ließ sich nicht abwimmeln.
„Ich möchte Dir nicht wehtun, Kat, aber Du musst mir jetzt zuhören. Wir taten das nur, um Matt vor großer Enttäuschung zu bewahren. Dad wurde nicht verwundet. Er kehrte aus Afghanistan zurück, doch er kehrte nicht zurück zu uns. Aus irgendeinem Grund war ihm aufgefallen, dass er unsere Mutter nicht mehr liebte. Da hat er eine Affäre mit einer anderen verheirateten Frau angefangen und ist mir ihr durchgebrannt. Matt hätte das nie verstanden. Deshalb haben wir entschieden, dass es besser für ihn wäre, zu glauben Dad sei ermordet worden."
Ich konnte nicht glauben, was Jessie mir da gerade erzählte.
„Wie krank ist denn das? Wie konntet ihr ihm das antun? Er leidet sehr unter dem Verlust seines Vaters. Das ist so abscheulich!Vielleicht ist es ganz gut, wenn Deine Mutter ihm endlich die Wahrheit erzählt."
„Das wäre keine gute Idee.", Jessie löste endlich seinen Griff und ich konnte meinen Arm befreien, „Er würde keine Ruhe geben, eh er ihn gefunden hat. Du hast doch gesehen, wie gefährlich das sein kann. Er hat Jahre nach unserer Mutter gesucht und dabei nicht nur sich, sondern auch seine Freunde in Gefahr gebracht."
„Trotzdem!", fauchte ich Jessie an, „Ihr hättet ihm sagen sollen, dass Euer Vater eine Affäre hatte. Er selbst scheint ja keine Probleme damit zu haben. Er hat ja auch mit Mel geschlafen. Wahrscheinlich würde er seinen Vater sogar total verstehen. Ich weiß ja nicht, was in Euren Köpfen so abläuft, aber eines weiß ich ganz genau, ich bin raus. Ich fliege noch heute zurück nach Hause."
Jessie's dunkle Augen hatten immer diesen traurigen Ausdruck und in diesem Moment wirkten sie besonders traurig.
„Ich verstehe. Bitte entschuldige, falls wir Dir Kummer bereitet haben.", enttäuscht senkte er den Kopf.
Ich fühlte mich irgendwie hin und her gerissen. Noch nie zuvor hatte ich mich so lebendig gefühlt, wie in der Zeit in Charleston mit Matt und Jessie. Ich liebte Matt immer noch. Eigentlich hatte ich gedacht, endlich den Mann fürs Leben gefunden zu haben, doch die zerrütteten Familienverhältnisse hatten aus ihm einen ziemlich verstörten und undurchsichtigen Charakter gemacht. Ich war froh, dass ich das noch rechtzeitig erkannt hatte.
„Leb wohl, Jessie!", ich sah ihn an und er tat mir irgendwie leid.
Doch meine Entscheidung stand fest. Ich wollte mich gerade an Cole's Arm festhalten, um zu gehen, als sich Cole plötzlich ruckartig herumdrehte und auf Jessie los stürzte. Ich war völlig perplex und verstand nicht, was da gerade vor sich ging. Entsetzt musste ich mit ansehen, wie Cole völlig besessen auf Jessie einschlug, der sich kaum wehrte.
„Cole! Was soll das? Was zur Hölle tust Du da?", ich versuchte ihn von Jessie wegzuziehen, doch er ließ sich nicht davon abhalten, immer und immer wieder auf Jessie einzuschlagen.
„Cole! Hör auf, bitte!", flehte ich ihn fassungslos an.
Jessie hielt seine Hände schützend vor sein Gesicht, doch es gelang ihm nicht, Cole's harten Schlägen zu entkommen. Er blutete bereits aus der Nase, dann fiel er zu Boden.
„Hilfe! Hilfe!", rief ich so laut ich konnte. Ich hoffte, dass mich der Typ von der Security hören konnte.
„Die Zimmer sind doch bestimmt videoüberwacht.", dachte ich, „Es müsste doch gleich jemand da sein."
Doch es kam keine Hilfe und die Situation in Jessie's Zimmer eskalierte immer mehr. Mittlerweile hatte ich meine Finger fest in Cole's Rücken gekrallt und versuchte ihn weiter mit aller Gewalt von Jessie herunter zu ziehen. Ständig verpasste er ihm weitere harte Hiebe.
„Hör auf, Cole! Du bringst ihn um!"
„Das hat er verdient. Seine gesamte Drecksfamilie hat das verdient!"
Es war bereits die ganze Zeit klar gewesen, dass Cole Matt und Jessie abgrundtief hasste und er wollte mir nie den Grund dafür nennen.
„Er hat Dir doch nichts getan. Lass ihn in Ruhe, Cole!"
Wieder sah ich verzweifelt zur Türe. Doch es gab weit und breit keine Spur von irgendjemanden, der uns helfen konnte.
Ich erkannte, dass ich keine andere Wahl hatte, denn ich wusste, dass der nächste Schlag das Ende für Jessie bedeuten könnte. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und drängte mich zwischen die beiden. Cole konnte den nächsten Schlag gerade noch stoppen, sonst hätte er mich mit voller Wucht ins Gesicht getroffen.
Als er mich entgeistert anstarrte, ließ er seine Hand endlich sinken.
„Die Connors haben meine Familie zerstört!", rief er schließlich und setzte sich völlig entkräftet neben Jessie auf den Boden. Jessie versuchte sich aufzurappeln und hielt seine Hand vor seinen blutenden Mund.
„Was meinst Du damit?", fragte ich, während ich Jessie behutsam auf die Beine half.
„Diese Affäre, von der er spricht, das war meine Mutter. Sein Vater hat sie uns weggenommen."
- Fortsetzung folgt-
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Loving You
Romance**************Abgeschlossen*************************************************************** Nachdem sie das Haus ihrer verstorbenen Großmutter geerbet hat, zieht Katharina Madden von New Jersey nach Charleston, South Carolina. Nach einer zerbrochenen...