Was ist Orientierung?

240 20 16
                                    

An diesem Wochenende würde der Sommer Grand Prix in Klingenthal beendet werden. Auch wenn Anfang Oktober meiner Meinung nach nicht mehr zum Sommer zählt, aber mich fragt ja niemand nach meinen meist etwas verdrehten Gedankengängen. Die Qualifikation war für 18:00 Uhr angesetzt, was bedeutet das die letzten Springer sich im Dämmerlicht die Schanze hinunterstürzen würden. Natürlich würden die Flutlichter ihnen den Weg leuchten, aber das macht die Sportler für mich nicht weniger verrückt. Ernsthaft, wer springt schon freiwillig von einer Schanze und segelt dann über hundert Meter durch die Luft?

Okay, eine ganze Menge Leute, aber ich würde das definitiv niemals machen. Ich konnte mir nie erklären wie meine Brüder Spaß an solch einer Aktivität gefunden haben und das Stephan das auch noch so viele Jahre durchzieht. Als ich noch kleiner war, konnte ich nie hinsehen wenn er mit dem Springen dran war. Ich habe mir dann immer die Mütze über den Kopf gezogen und gefragt ob es vorbei ist. Irgendwann bin ich dann einfach nicht mehr zu den Springen mitgegangen und gerade in meiner rebellischen Teenager Phase wurden meine Brüder von mir ziemlich vernachlässigt.

In den letzten drei Jahren hat sich unser Verhältnis dann wieder gebessert und besonders zu Stephan habe ich mittlerweile einen viel besseren Draht als früher. Ich denke mal es liegt daran das ich so ein Nachzügler in der Familie bin. Wir liegen so viele Jahre auseinander, da ist es irgendwie verständlich wenn die großen Brüder nichts mit einem anfangen können. Während meiner Abiturphase, habe ich mich zwar wieder ein wenig abgekapselt, aber jetzt habe ich ja erstmal ein bisschen Zeit um verpasste Dinge aufzuholen.

Deshalb begleite ich Stephan diese Saison. Ich möchte einfach mal ein bisschen mehr Zeit mit meinem Bruder verbringen und ihn außerdem bei dem unterstützen was ihm so Spaß macht. Da nehme ich es auch in kauf Stundenlang bei Wind und Wetter an der Schanze zu stehen und mir vielleicht das ein oder andere Körperteil abzufrieren, während ich immer hoffe das niemand abstürzt. Aber ich würde das durchziehen und am Ende hoffentlich noch all meine Gliedmaßen besitzen.

Auch wenn es schon Anfang Oktober ist, haben wir Wettermäßig richtig Glück heute. Eine angenehme Herbstwärme liegt über dem Gelände, wobei das sich vermutlich ändert sobald die Sonne untergegangen ist. Aber bis das soweit ist, genieße ich die letzten Strahlen noch und beobachte die Qualifikation von einem gutem Platz aus.

Nacheinander segeln die Athleten die Schanze hinunter und ich sehe ihn mal mehr, mal weniger interessiert dabei zu. Wenn ein bekannter Name genannt wurde, hebe ich meinen Kopf natürlich und drücke der Person die Daumen, das sie auch wieder heil unten ankommt. Selbst mir Namenslegastheniker kommt der ein oder andere Name mehr als noch vor ein paar Wochen bekannt vor und darauf kann ich doch stolz sein oder?

Es dauert seine Zeit bis alle Athleten ihren Weg nach unten gefunden haben, aber irgendwann ist es dann geschafft. Die Sonne ist mittlerweile hinter den Wipfeln der Bäume verschwunden und wie erwartet ist die Temperatur gleich um einige Grad gefallen. Zum Glück hatte ich noch eine Jacke dabei, sonst würde ich jetzt vermutlich frieren, aber ich hatte ja mitgedacht. 

Jetzt ging es für mich zurück ins Springerlager und auf die Suche nach unserer Hütte. Dort hatte ich den Treffpunkt mit Stephan ausgemacht oder eher er hat bestimmt das es am einfachsten ist wenn ich dorthin komme. Mal schauen wie lange ich dorthin brauchen würde, schließlich sieht hier alles gleich aus und es gibt bestimmt keine Wegweiser die mir genau sagen wo ich langlaufen muss. Also gehe ich heute dem Motto wer suchet der findet nach.

Eine gefühlte Ewigkeit irre ich herum, dann gebe ich auf. An dieser Stelle bin ich bestimmt schon zum dritten Mal langelaufen und dabei war ich mir sicher den richtigen Weg gewählt zu haben. Frustriert drehe ich mich im Kreis. Was kann schon so schwer daran sein sich hier zurecht zu finden? Alle anderen schaffen das doch auch. Wobei, die sind vermutlich öfter auf solchen Springen unterwegs als ich. 

Unzufrieden verschränke ich die Arme vor der Brust. Eigentlich habe ich nicht vor hier zu übernachten, also sollte ich mich wohl nach einer Lösung für mein Problem kümmern. Aber das scheint sich schon von allein lösen wollen, denn ich wurde von der Seite angesprochen.

"Kann man dir irgendwie helfen? Du siehst etwas verloren aus." sagt die belustigt klingelnde Person auf meiner linken Seite. Mit ertappter Miene drehe ich mich um und sehe in das grinsende Gesicht meines Gegenübers.
"Dir auch Hallo Timi." sage ich und fange ebenfalls an zu Grinsen. Timi stößt ein kleines Lachen aus und begrüßt mich anschließend. 
"Hallo Emi, aber meine Frage ob man dir helfen kann bleibt trotzdem die Gleiche."

Verlegen kratze ich mich am Nacken.
"Ja, vermutlich schon. Ich suche die Hütte von den deutschen, weil mein Bruder da auf mich wartet, aber irgendwie ist mein Orientierungssinn so gering dass ich das nicht hinbekomme." erkläre ich meine Notlage und hoffe das Timi mir da weiterhelfen kann. 
"Na wenn es weiter nichts ist." er zuckt mit den Schultern, dann geht er einfach wieder weg.

Empört lege ich meinen Kopf schief. Ist das gerade sein Ernst das er mich hier einfach stehen lässt? Aber da hat er sich schon halb zu mir umgedreht und ruft ein fröhliches "Was ist, kommst du?". Ich muss anfangen zu lachen und hole die paar Schritte schnell auf.

"Du spinnst doch." sage ich dann neckend und er tut kurz so als ob er von meiner Aussage schwer getroffen wäre, fängt dann aber an zu Lachen.
"Ohne Verrücktheit wäre das Leben doch langweilig." belehrt er mich und ich kann ihm da nur zustimmen.

"Was hättest du gemacht wenn ich dich nicht eingesammelt hätte? Weiter im Kreis gedreht oder gab es einen Alternativplan?" fragt Timi mich belustig und ich ziehe einen Flunsch. 
"Ich hätte schon einen Ausweg gefunden oder wohl oder übel hier übernachten müssen. Wobei, vorher hätte mein Bruder vermutlich einen Suchtrupp geschickt."
"Na dann ist es ja gut das ich dich eingesammelt habe." sagt Timi und legt mir locker einen Arm über die Schultern. 

"Angekommen." verkündet Timi einen Moment später und schiebt mich in die Richtung von meinem Bruder, der uns beide mit skeptischem Blick betrachtet. 
"Dankeschön." sage ich artig und lächle Timi an.
"Kein Problem, aber vielleicht sollte dir jemand mal einen Lageplan machen, nicht das du noch irgendwann ganz verloren gehst." lacht er mich aus und zwinkert mir zu.

"Haha, sehr lustig." sage ich gespielt eingeschnappt und weiche seiner Hand aus, die mir augenscheinlich durch die Haare wuscheln wollte. 
"Ich verschwinde dann mal wieder, sonst lässt mich mein Team noch hier und dann bin ich derjenige der in so einer Hütte übernachten muss." sagt Timi und verschwindet mit einem kleinen Winken in meine Richtung. Ich schüttele den Kopf während ich ihm Grinsend hinterher sehe. Der ist doch nicht ganz normal.

"Emi." spricht Stephan mich an und ich drehe mich zu ihm um.
"Was gibt's?" frage ich und gehe die paar Schritte zu ihm. 
"Läuft da was?" fragt er mich mit gesenkter Stimme und verschränkt die Arme grimmig vor der Brust. Entsetzt sehe ich meinen Bruder an.

"Was? Nein, natürlich nicht." protestiere ich sofort. Wie kommt er dann da drauf?
"Naja, ihr seht halt so vertraut aus." versucht Stephan sich mehr schlecht als recht zu erklären. Ich verdrehe nur meine Augen ein wenig.
"Man kann auch mit dem anderem Geschlecht einfach nur befreundet sein Stephan." belehre ich ihn und gehe in die Hütte um mich ein wenig nützlich zu machen.



Und wie ist euer Orientierungssinn so? :D

Findet ihr die Kapitellänge so gut oder wäre euch was längeres lieber?

Schönes Pfingstwochenende euch
WOLKE <3

Irgendwie anders [Domen Prevc]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt