52 | When one forgives, two can be healed.

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Drei Tage ohne eine Nachricht jener Person zu erhalten, der gegenüber man ein schlechtes Gewissen hatte, war eine lange Zeit.

In der Schule war Lennox mir nicht über den Weg gelaufen. Er hatte die gemeinsamen Stunden geschwänzt und sich in den Mittagspausen an mir unbekannten Orten aufgehalten - oder war auch zu ihnen nicht erschienen. Mittlerweile nahm die Sorge von meinem gesamten Körper Besitz und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich mir wünschen sollte, dass sein Fehlen nur mein Verschulden war oder ob es einen anderen Grund gab.

Wie eine Besessene saß ich an jenem Nachmittag an meinem Schreibtisch, starrte das schwarze Display meines Handys an und trommelte mit den Fingern auf meinem Block. In verschnörkelter Schrift hatte ich eine Überschrift auf diesen Gekritzelt, als einziges Ergebnis meiner Bemühungen.

Jedes Mal, wenn ich an die Enttäuschung in seinen Augen dachte, konnte ich mich nicht mehr auf meine Übungen konzentrieren. Es war der matte und kraftlose Ausdruck in ihnen gewesen, der mich hatte fallen lassen. Ich hatte erkannt, dass er einer solchen Situation schon oft gegenüber gestanden haben musste. Und ich hatte sie wiederholt, ihn damit an vergangene Probleme erinnert, die für uns keine darstellen sollten.

Mit jeder Sekunde ohne eine Nachricht von ihm spürte ich, wie schwer es werden würde, sein Vertrauen zurückzugewinnen. Mein Wille wurde dadurch jedoch keines falls geschmälert. Ich trug noch immer den Vorsatz in mir, mich an seine Seite zu heften und ihn zu unterstützen.

Genau deswegen fiel es mir so schwer, das Handy zur Seite zu legen. Ich erwartete einen Anruf von ihm, eine Nachricht oder nur das kleinste Anzeichen darauf, dass es ihm besser ging. Seit dem Moment, in dem er vor mir die Flucht ergriffen hatte, hatte ich mich nicht mehr bei ihm gemeldet. Mittlerweile zweifelte ich an meiner Entscheidung, lebte mit der Angst, dass ich ihm dadurch vermittelte, dass ich kein Interesse mehr an ihm hätte. Dabei wollte ich ihm die Chance geben, über alles nachzudenken. Er sollte dabei selbst entscheiden, ob es wenige Tage, oder auch Wochen dauern sollte. Ich würde es hinnehmen, solange die Hoffnung bestand, dass er sich irgendwann meldete.

Es kribbelte mir in den Fingern, seine Nummer zu wählen und wenigstens zu erfahren, wie es ihm ging. Denn mit der Zeit wurde ich das Gefühl nicht los, dass nicht nur seine Enttäuschung mir gegenüber ihn dazu gebracht hatte, den Unterricht zu schwänzen und sogar ein Schwimmtraining zu versäumen.

Ich legte den Kopf in den Nacken, starrte die helle Decke an und studierte die kleinen Dellen und Risse, die sie aufzuweisen hatte. Vielleicht sollte ich versuchen, über jemanden aus dem Schwimmteam an Informationen über ihn zu kommen. Wenigstens zu erfahren, ob es ihm gut ging oder er Hilfe benötigte. Je länger ich über ihn nachdachte, desto mehr Szenarien ergaben sich in meinem Kopf, die mich auf schlimmere Gründe für sein Wegbleiben schließen ließen.

Ein Vibrieren auf dem Schreibtisch ließ mich hochschrecken. Eine übereilte Handbewegung brachte mehrere Stifte zu Fall, denen ich ungeschickt auswich, als ich mein Handy zu fassen bekam. Ich strich mit dem Finger über den Bildschirm, über das Bild von Lennox, und öffnete seine Nachricht, die mir die Vibration angekündigt hatte.

Lass uns reden. Heute. Am besten jetzt.

Ein Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus und das Lächeln, das die letzten Tage nur selten meine Lippen geziert hatte, kam zurück. Getrübt wurde es nur durch die Wortwahl und die wenigen Emotionen, die seinem Text zu entnehmen waren. Aber immerhin. Er hatte sich gemeldet.

Gerade rotierten meine Finger über der Tastatur, als man mir anzeigte, dass er wieder am Tippen war. Unentschlossen hielt ich inne.

Kannst du in einer halben Stunde am Aussichtspunkt sein?

Paralyzed | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt