Grasgrün

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„Ricardo, du warst großartig," freut sich mein Abteilungsleiter am Nachmittag. Er saß noch lange mit den Kunden zusammen und hat den Deal wohl finalisiert, so dass wir in zwei Wochen mit den ersten Entwürfen für meine spontan ausgedachte Kampagne starten können.

„Danke, Peter," lächele ich. Mein Kopf hat sich nach der Präsentation etwas beruhigt und ich bin ganz froh darüber, dieses Elfenbein vorerst loszusein. Dennoch nagt es in meinem Hinterkopf, dass ich seine Bedeutung nicht weiß.
„Ich fange dann morgen mit den Entwürfen an, wenn dir das recht ist?" biete ich an.
„Morgen reicht völlig, Cooper und sein Filius sind nach deiner grandiosen Idee tiefenentspannt," beteuert Peter. „Die rechnen erst nächste Woche mit den ersten Vorschlägen."

•••

Nach meinem Feierabend biege ich kurz in die Straße ab, in der sich mein Lieblingsladen befindet. Schon der Geruch im „True Colors" lässt mich entspannt durchatmen und es fühlt sich fast wie zu Hause an. Wenn ich könnte, würde ich hier wohnen, aber Elmer, der Besitzer, schmeißt mich nach spätestens zwei Stunden Aufenthalt raus. Er sagt immer, in einem Laden voller Farben ist es wie in einer Parfümerie: irgendwann kann man nichts mehr aufnehmen.

Ich selbst sehe das anders und Elmer hat schon vor langer Zeit aufgegeben, mich darin unterbrechen zu wollen, wenn ich verzweifelt vor den Stiften und Aquarellkreiden stand, um den perfekten Magentaton zu finden. Er kann Farbtöne äußerst gut unterscheiden, aber selbst er musste irgendwann einsehen, dass ich in diesem Thema der vermutlich pingeligste Mensch der Welt bin.

Ich arbeite ungern mit Pinseln, da hier die Farben zu sehr verwaschen. Darum sind Stifte und Kreiden im exakt richtigen Ton das Werkzeug meiner Wahl. Elmer weiß das und hat sein Sortiment dank meiner Wünsche in den vergangenen Jahren auf ein unglaubliches Maß ausgeweitet.

„Hallo, Ricardo," grüßt er mich freundlich hinter der kleinen Theke. „Brauchst du wieder Nachschub an stahlblau?"
Vor etwa einem Monat gab es eine lange, stahlblaue Phase und ich war fast dreimal pro Woche hier um neue Stifte zu holen.
„Nein," erwidere ich grübelnd und gehe zu dem Regal mit den Skizzenblöcken. „Hast du Blöcke mit dunklen Seiten, Elmer?"

„Oh, ja," überlegt der alte Mann und gesellt sich zu mir. „Ein paar mit schwarzen oder grauen Seiten. Soll ich welche bestellen?"
„Nein, ich denke, das brauchst du nicht," erwidere ich gedankenverloren und betrachte einen Block mit grauen Seiten, stelle ihn aber wieder zurück. „Schwarz ist besser," überlege ich. „Grau verfälscht zu sehr. Hast du gemischte Blöcke? Schwarz und weiß?"

„Hmm," macht er und geht zurück zum Tresen, wo er einen dicken Katalog hervorzieht. Elmer hält nicht viel von Onlinebestellungen. „Ich weiß nicht, ob es sowas überhaupt gibt. Lass' mich mal nachsehen."
„Dann nehme ich erst einmal einen mit schwarzen Seiten," erkläre ich und ziehe einen eben solchen Block aus dem Regal. „Und ich schaue nochmal bei den Stiften."

„Ich habe ein neues Zitronengelb," ruft er mir begeistert nach, doch ich schüttele den Kopf. „Ich brauche Elfenbein," murmele ich und vertiefe mich in der riesigen Auswahl.

•••

Einige Zeit später verlasse ich das „True Colors" mit einem neuen Skizzenblock und drei neuen, elfenbeinfarbenen Stiften in meiner Stifterolle. In der U-Bahn auf dem Weg nach Hause schaue ich mich unauffällig um, aber alles, was ich sehe, ist weiteres Schlammbraun und viel Stahlblau. Der Heimweg ist meist stahlblau und ich selbst bin auch ziemlich müde. Ich sehe kein Elfenbein, was in einer Stadt wie New York keine Überraschung sein sollte.

Man trifft selten zweimal die gleichen Menschen, es sei denn, sie haben den gleichen Rhythmus und die gleichen Wege wie man selbst. Außerdem wähle ich morgens meist nie den gleichen Zug und schon gar nicht den gleichen Wagen, um die Vielfalt der Farben für mich möglichst großzuhalten. Die meisten Menschen tragen doch jeden Tag das Gleiche.

„Hey," rufe ich in die Wohnung, nachdem ich die Tür aufgeschlossen habe.
„Hey," kommt es aus der Küche zurück. Der unwiderstehliche Duft von Pasta und Kräutersauce kommt mir entgegen und erst jetzt fällt mir auf, dass ich heute noch nicht viel zu mir genommen habe. Maddie hatte mir in der Mittagspause einen Bagel mit Frischkäse auf den Schreibtisch gestellt, den ich aber auch nur zur Hälfte geschafft habe.

Ich hänge meinen Mantel an den Haken der Garderobe und folge den Aromen. Dean steht am Herd und rührt in einer Pfanne. Er ist grasgrün. Eigentlich immer.
„Hast du Hunger?" fragt er mich lächelnd und küsst meine Schläfe.
„Hmm," mache ich und stibitze mir eine Nudel aus dem Topf. Zischend sauge ich die heiße Pasta in meinen Mund, während Dean mich strafend, aber dennoch lächelnd ansieht.

„Das sieht aber nach großem Hunger aus," stellt er fest und wischt mir etwas von dem Nudelwasser von meinem Kinn.
„Ich hatte keine Zeit zum Essen," nuschele ich mit der Nudel im Mund.
„Aber Zeit zum Shoppen?" lacht er und zeigt auf den Beutel mit dem „True Colors"-Logo darauf.
„Ich brauchte einen neuen Skizzenblock," verteidige ich mich.
„Du hast letzte Woche erst einen Neuen bekommen."
„Aber ich brauche einen mit schwarzen Blättern."
„Natürlich." Dean seufzt und lächelt noch immer, während er den Herd abstellt und mir dann Teller aus dem Schrank reicht.

Ich bringe die Teller zum Esstisch und stelle sie auf den grasgrünen Sets darauf ab. Unsere Küche und das Esszimmer sind sehr grün. Dean mag grün und Dean mag Essen. Da die Küche sein Bereich ist, ist hier alles grün. Manchmal frage ich mich, ob er nicht lieber hätte Gärtner werden sollen, aber das ist Unsinn. Dean kann nicht gut mit Pflanzen umgehen. Aber kochen kann er gut.

„Wie lief der Termin mit Cooper?" fragt er mich interessiert, als er den Topf mit der Pasta auf dem Tisch abstellt.
„Ja, ganz gut," erzähle ich. „Wobei ich etwas improvisieren musste."
Und so berichte ich von meiner Fuchur-Idee, während er beginnt, das Essen auf unsere Teller zu portionieren.

Farbenspiel | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt