Tiefschwarz

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Als ich am Sonntagmorgen erwache, ist die Betthälfte neben mir leer. Auf dem Küchentisch finde ich einen Zettel von Dean, auf dem in seiner kritzleligen Handschrift steht:

Der Webdesigner hatte heute überraschend Zeit, fangen mit der Homepage an. Im Kühlschrank ist noch Ratatouille. ❤️ Dean

Seufzend reibe ich mir mein Gesicht. Ich mache mir einen Kaffee und setze mich dann auf unseren winzigen Balkon. Mit meiner Tasse in der Hand überlege ich, was ich heute wohl anfangen könnte, wenn ich wieder den ganzen Tag allein bin.

Das Alleinsein macht mir nichts aus, vor Dean war ich lange Zeit allein und vollkommen fein damit. Eher durch Zufall lernten wir uns in dem Restaurant kennen, in dem er vorher arbeitete. Früher habe ich praktisch meine gesamte Freizeit mit Malen verbracht, aber da selbst das mir in letzter Zeit keine richtige Erleichterung zu verschaffen scheint, kann ich mich über die freie Zeit nicht wirklich freuen.

Ich gehe duschen und ziehe mir etwas an und beschließe dann, den Tag draußen zu verbringen. Ich mache mir ein paar Sandwiches, die ich zusammen mit einem Apfel in meinem Rucksack verstaue und ignoriere das Ratatouille im Kühlschrank. Irgendwie glaube ich, dass es heute Abend auch noch dort sein wird.

Heute ist es richtig frühlingshaft draußen, die Sonne scheint und obwohl man noch eine Jacke braucht, merkt man sofort, dass die warmen Tage bald häufiger kommen werden. Zu Fuß mache ich mich auf den Weg zum Central Park und freue mich, dass ich heute, anders als morgens in der U-Bahn, keine stahlblauen oder moosgrünen Menschen sehe.
Die meisten sind heute grasgrün wie Dean oder sonnengelb wie Ella und viele Erwachsene sind mit ihren Kindern im Park. Die Kinder laufen ausgelassen und lachend über die Wiese und ich freue mich, einfach nur dabei zuzusehen, den Vögeln zu lauschen und den Lärm der Stadt nur als eintöniges Hintergrundgeräusch wahrzunehmen.

Auf einer Bank breite ich meine Stifterolle aus und lege meine Skizzenblöcke daneben ab. Heute male ich nur auf weißem Papier. Ein kleiner Junge, etwa neun Jahre alt, strahlt so hell, dass ich beschließe, ihn zu malen. Er spielt mit seinem Vater auf der Wiese Fußball und ein kleiner Terrier hüpft immer zwischen ihnen herum. Kinder strahlen meist noch mehr, wenn Tiere, ganz besonders Hunde, in ihrer Nähe sind. Dann werden die Farben automatisch heller und ausgeglichener. Tiere haben witzigerweise keine Farben für mich.

Irgendwann vertilge ich mein Sandwich und meinen Apfel und halte einfach nur mein Gesicht in die Sonne.
Gestern habe ich Ella zu dem Bild über mich befragt und sie zuckte nur mit den Schultern, als wir über die Wuschelhaare sprachen.
"So lange du suchst, findest du nicht, was du willst, Ricardo," hat sie gesagt und ich habe mich kurz gefragt, ob ich wirklich mit einer Fünfjährigen spreche. "Das ist wie, wenn ich meinen neuen Stift suche. Ich gucke überall und denke, dass er sich mit Absicht vor mir versteckt. Und dann denke ich mir, dass ich ihn finden will. Ich will ihn ja nicht suchen, das Suchen nervt!"
Verwundert habe ich sie angesehen.
"Und dann, Ricardo," sagte sie ganz aufgeregt. "Kommt meistens Mom und schimpft mit mir, warum ich ihn im Bad liegen gelassen habe."

Ella hat recht, entscheide ich mich. Ich werde aufhören zu suchen. Das Elfenbein oder Perlweiß, was immer es war. Es war sicherlich interessant, aber ich muss meinen Kopf davon freibekommen.

Vor ein paar Jahren habe ich mal einen Mann im Supermarkt gesehen, der tiefschwarz war. Mich hat das unglaublich fasziniert, ähnlich wie das Weiß des Mannes in der U-Bahn. Auch diesen Mann habe ich regelrecht angestarrt und nur eine schemenhafte Skizze hinbekommen, denn auch ihn sah ich nur dieses einzige Mal.

Wochenlang hat mich diese Farbe verfolgt, weil ich so etwas noch nie gesehen hatte. Die meisten Farben wiederholen sich und es ist äußerst spannend für mich, wenn jemand aus der Norm fällt. Und als ich fast sämtliche Blöcke mit schwarz vollgekritzelt hatte und meine Erinnerung so verblasst war, dass ich nur noch selten daran dachte, sah ich den Mann abends in den Nachrichten. Er hatte in einer Kirche mehrere Menschen erschossen und dann sich selbst hingerichtet.

Die Farben haben für mich keine klassische Bedeutung wie schwarz ist böse und weiß ist gut. So einfach ist es leider nicht. Es gibt viele kleine Nuancen dazwischen und nur ein winziger Hauch kann so viel anderes bedeuten. Gelb ist nicht gleich gelb. Sonnengelb ist meistens die Fröhlichkeit und Ausgelassenheit von Kindern, aber vanillegelb ist oft mit Neid verbunden. Für viele Menschen ist beides gelb, aber für mich macht es Welten aus.
Schon immer war ich fasziniert von den Farben, die sich mir zeigen, aber da ich sie schon seit meiner Kindheit kenne, habe ich sie nie bewertet, sondern immer nur als das aufgenommen, was sie eben sind.

Gegen Nachmittag wird der Wind etwas frischer und nachdem ich neben dem Jungen auch seinen Vater und sogar den für mich farblosen Terrier gezeichnet habe, mache ich mich langsam auf den Heimweg.

Als ich nach Hause komme, ist Dean noch immer nicht zurück und ich schreibe ihm eine Nachricht.

Dean

Wie läuft das Webdesign?

Ganz gut, es ist wirklich
spannend. Ich bräuchte
auch einen Tipp von dir.

Du, ich bin ganz schlecht
mit Frühlingsrezepten.
Mir liegt eher die Sparte
Fix und fertig :)

Du bist süß. Aber du kannst
mir sagen, welche Farben als
Design für den April gut passen.
Der Nerd hier meint blau, aber
ich dachte, ich frage dich mal.

Nein, nimm lieber dein geliebtes
grün. Und ein wenig gelb.
Denk an Frühling. Wiesen, Knospen,
Osterglocken. Sowas eben.

Sagst du nur grün, weil ich
grün mag?

Ich sage grün, weil es zum April
passt. Und weil ich dich mag :)

Ich mag dich auch. Danke für
den professionellen Tipp.

Immer gern.
Wird also wieder spät?

Wenn wir jetzt gleich nochmal
alles auf grün umändern,
vermutlich ja.
Hast du das Ratatouille
gegessen?

Nein, ich bin gerade erst zurück.
Hatte mir Sandwiches gemacht.

Zurück?

Ich war im Park. Heute ist nämlich
alles grün und im Central Park
blühen auch schon die Osterglocken.

Brauchst du wieder
einen neuen Block?

Als würde ich nur malen!

Brauchst du?

Nein, ich denke, der reicht
noch 2 Tage :)

Lachend lege ich das Handy weg und schalte den Fernseher ein. Auf Ratatouille habe ich auch jetzt keine Lust.

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